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Von der Zärtlichkeit des Übermorgen

Anthologie

Hrsg. Marlies Eifert und Georg Grimm-Eifert

ISBN 978 – 3-9810816-9-5

Preis 13.95 €

Autoren-Feder Verlag

Meinerzhagen 2007

Es gibt viel Gegenwart im Übermorgen!!!Fast könnte man sagen, die „Zärtlichkeit“ hätte eine Überlebenschance im Übermorgen, obwohl die Bedingungen ja so ganz andere geworden sein könnten.

Dreißig Autoren haben sich Gedanken über die zukünftige Welt gemacht.

Da finden sich jede Menge technischer Neuerungen. Dank sei dem Warpantrieb : Wir werden nicht verhungern in der Zukunft(Barbara Lorenz: Tabaneas und Belemos Traum). Freizeit und Arbeit sind geregelt, Streichelhändchen sorgen für gute Stimmung(Ursula Eggli: Das Streichelhändchen).

Sauberkeit wird u.U. durch elektromagnetische Spannungsfelder gewährleistet(Jürgen Stein: Das soll nie wieder vorkommen). Terrorakte haben keine Chance, weil es eine vollständige Überwachung der Privatsphäre gibt. Mittels Brainscanning kann der Mensch über seinen Tod hinaus weiter bestehen(Marlies Eifert: Cleos neue Wege). In 'Männerhass spricht zu Weiberhass' bittet die Partnerin: „Scann mich runter. Bitte...“ Ganz im Stil von klassischer sf sind Begegnungen mit Ausserirdischen möglich. So in Regina Schleheck: Monster und in Marlies Eifert: Expedition.

Für den Tourismus entstehen neue Möglichkeiten: Drei Nächte im Kopernikus-Krater. Mond beispielsweise (Arno Endler: Ich liebe dich).können gebucht werden.  Oder ein mehrwöchentlicher Tauchausflug ins versunkene Venedig: kein Problem(Manuela Führer und Florian Stummer: Fixstern).Auch der Bevölkerungsrückgang in der westlichen Welt kann gestoppt werden ( Andreas Dresen: Das erste Kind gehört dem Staate). Wir werden hundert Jahre alt, ohne unser Aussehen zu verändern. Abgesehen von geringfügiger Reduktion der Vitalität haben wir keinerlei Beeinträchtigung (Ursula Eggli).Auf die Möglichkeit neuer Blumenzüchtungen weist die Geschichte Adelheid Schmidts: Grüne Augen- blaue Mohnblume hin.

Haben wir also eine schöne neue Welt vor uns? So sieht es nicht aus. Ganz wie bei Huxley erwartet den Leser in den meisten Erzählungen, Dialogen, Essays dieser Anthologie eher das Gegenteil.

In mehr als einer Erzählung spielen Appartements eine Rolle, in denen einzelne nur durch das „Netz“ mit anderen verbunden, leben und arbeiten. Der Versuch, trotz allem eine „lebendige“ Begegnung herbeizuführen, kann für die zukünftigen Paare ernste Konsequenzen haben( Regina Karolyi: Romeo und Julia 2212). Immer wieder werden auch in anderen Erzählungen Versuche thematisiert, das „System“ zu durchbrechen, seine Normen zu unterlaufen.

So wenn der 'Romeo' seiner 'Julia' zum Geburtstag einen Schokoladenkuchen backt und damit die gängigen Nahrungsmittel durchkreuzt(Oliver Baron: Schokoladenkuchen). Der Annäherungsversuch eines Liebesbedürftigen an eine gestylte Frau ganz wie in alten Zeiten auf einem Sofa endet allerdings völlig anders als erwartet...(Regina Regling: Eva).

Gerade für die alte Generation, die in der Anthologie nicht zu kurz kommt, gilt: Es ist viel Gegenwart im Übermorgen. In Tabaneas und Belemos Traum bringt eine Betreuerin die Spritze des Tages, um die Alten ruhig zu stellen. In November 2030(Nele Mint) kann die alte Dame vor ihrem Fenster immerhin noch einen Ahorn beobachten... und sie bekommt einen „richtigen“ Liebesbrief, der von einem „richtigen“ , tatsächlich noch gelben Postauto gebracht wird.

Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“? Gelegentlich wird sie heraufbeschworen, wenn man sich an „Vom Winde verweht“ erinnert( Romeo und Julia 2212) oder an Clark Gabel, John Weyne(Männerhass spricht zu Weiberhass), an „Wiesen und Wälder“, wie sie früher einmal waren(Ingeborg Inden: Mein Waldspaziergang) oder auch nur an das Leben in Familien( Das erste Kind gehört dem Staate). So wie heute Ruinen von Tempelanlagen lediglich eine Erinnerung an frühere Zeiten darstellen, ist im Heute des Übermorgen ein Mauerrest einer Kirche von einem Aussichtsturm aus zu sehen. Er hat keine Bedeutung mehr. (Rolf Eisel: Der Aussichtsturm). Wenn in Lisas Abenteuer(Antonia Fournier) ein Mädchen vom Krankenhauszimmer aus mit ihrer Freundin, der Hexe Tilonia, auf einem Besenstil davon reitet, dann werden auch bei dieser Geschichte nostalgische Gefühle wach: eine Sehnsucht nach der guten alten Zeit, in der solche Märchen und Mythen noch zu Hause waren.

Ob in den nachdenklichen Erzählungen oder in der eher philosophischer Form eines Essays: Warnungen in Bezug auf eine unreflektierte Übernahme technischer und sozialer Möglichkeiten stehen im Vordergrund. Jean Claude Rubin spricht in seinem Beitrag „Essay“ von einem letzten Aufruf der „Alten“ an die junge Generation: „Seid vorsichtig und geht kritisch mit der Technologie um.“

Ist es unter diesen Umständen noch erstaunlich, dass auch Außenseiter in der Zukunft wenig Chancen haben? In Barbara Jung Hier wie dort schaut sich ein außerirdisches Homosexuellenpaar die Erde als mögliches Auswandererland an und stellt fest: Auch dort gibt es keine Möglichkeiten für ein ruhiges Leben ohne Repression. Die Frauengesellschaft, die Männer lediglich als Samenspender braucht, ist auch nicht unbedingt das beste denkbare Modell für die Zukunft(Nadine Ihle). Störanafälligkeiten der Technologie  zeigen sich bereits heute(Katja Groß:Strom(L)os)..

Wen wundert es, wenn die Protagonistin der Erzählung Der Ohrwurm ( Nele Mint )den Vertreter, der ihr Natursimulation mit Vogelgezwitscher verkaufen will, kurzerhand aus der Wohnung befördert. Sie war der Zukunft gerade noch so „von der Schippe“ gesprungen. Keine Rede also von der Freude auf eine technisch und sozial bessere Welt.
Dass die Zukunft ihre Tücken hat, trotz aller Fortschritte, das glauben nahezu alle Autoren der Anthologie zu wissen.

Die Herausgeber waren nach den Horrorszenarien in der sf- Szene angetreten, positive Streifen in der Zukunft auszuloten. Es sieht fast so aus, als wären sie gescheitert.

Nicht ganz in die Reihe der bisher angesprochenen Beiträge fügen sich inhaltlich schwer fassbare Texte, deren Prosa sich zwischen Nonsens und skurril abgewandelter Alltagsbeobachtung bewegt. Bei Jürgen Landt endet der Beitrag mit einer eigenartigen Form von Nachdenklichkeit: “...und versuchte, ohne dass es mir gelang, an meinen Fingernägeln zu knabbern.“
Merkwürdiges Getier taucht auf : Playboyhäschen (J.Landt), Bücherwürmer (E.Therre-Staal), Spinnen im Haar als Schmusetiere(J.Döpfer).

Das nordisch Spökenkiekerische findet einen Akzent in „Das Gespenst von Canterville und die Weltraumkapsel“.

Wenn das Gespenst die ausgediente Weltraumkapsel küsst und die Großen dieser Welt sich darauf besinnen, die irdischen Miseren zu bekämpfen(Georg Grimm-Eifert), kann der Leser schließlich doch ein wenig aufatmen...

Zum Glück gibt es immer wieder Geschichten, die sich der Einordnung in den gedachten Zusammenhang widersetzen.

Liane Mandt: Trotzdem

Silvie Schlechte: Computerliebe

Elisabeth Seiberl: Die Ironie der Zärtlichkeit

Andrea Tillmanns: Andere Worte

Der Vielfalt der Erzählperspektiven und Absichten der Autoren versuchen die Zeichnungen von Georg Grimm-Eifert gerecht zu werden. Oft werden eher skizzenhafte Situationen festgehalten, manchmal gehören Zeichnungen mit zur Geschichte, betonen auch mal den humorvollen Aspekt, dann aber bieten sie symbolische Hinweise an, die bis zu einer Deutung des Erzählten reichen.