Marlies
Eifert |
Haus
ohne Schlüssel An die letzten Telephongespräche
mit Tante Irene erinnere ich mich noch ziemlich genau. So lang ist es noch
nicht her. Und was ist alles in der Zwischenzeit passiert! So als würde sie mir das zum allerersten Mal
erzählen, bekam ich zu hören: ”Du, ich habe meine Schlüssel verloren. Du
weißt doch, die Sicherheitsschlüssel, die
mit dem geriefelten Schlüsselring; sieht aus wie eine sich zum Kreis aufringelnde Wegschnecke..” “So
schlimm kann das doch nicht sein, Du wirst sie schon finden, oder rufe den
Schlüsseldienst an”. Tante Irene hatte eigentlich nur noch dies
eine Problem-offensichtlich ging sie nicht mehr aus dem Haus. Sowieso aß sie
wenig, sagte , in ihrem Alter brauchte man nicht
mehr so viel, meinte sie. Ihre Nachbarin, Frau Biselet
, würde ihr schon mal was bringen, aber Frau Beselet
war vorgestern in den Urlaub gefahren. Nach Ibiza. “Und was machst du jetzt?”“ Ich warte halt,
bis sie wiederkommt”. Es war nicht zu umgehen, ich musste bei Tante
Irene nach dem Rechten sehen, und das hieß, eine Stunde Fahrzeit hin, und
eine Stunde Fahrzeit zurück. Mit dem Tag wäre dann weiter nichts mehr
anzufangen. Eigentlich hatte ich keine Lust und keine Zeit, und außerdem
sagte sie ja auch. ”Du brauchst nicht zu kommen, Kind. Es kommt schon alles
auf die Reihe.” Es kam überhaupt nichts auf die Reihe, und
als ich mich dann endgültig ins Auto Richtung Wüstenwald machte, war alles
schon zu spät. Tante Irene hatte sich eine Woche lang
nicht gemeldet. Wenn ich anrief, dann kam das Besetztzeichen. Eigentlich war das nicht weiter
besorgniserregend, denn meistens legte meine Tante den Hörer nicht richtig
auf. Trotzdem: Ich musste fahren. Als ich gegen Mittag in Wüstenwald ankam,
den Koffer voller Lebensmittel für mindestens drei Wochen, fand ich - es
fällt mir schwer, das so hinzuschreiben-Tante Irenes Haus nicht. Ich dachte, ich spinne. Aber es war
eigentlich alles wie sonst, die Schuppentür weit geöffnet, das ‘Häckelchen’ lehnte an der Wand, die weißen und rosafarbenen
Geranien auf dem Mäuerchen, das das Grundstück nach hinten begrenzte, blühten
um die Wette , als wären sie heute morgen noch
gegossen worden, der Tisch draußen war wie bei meinem letzten Besuch mit
einer blau-weißen Wachstuchdecke bedeckt. Schnecken ob mit oder ohne Häuschen
ernährten sich genüßlich an den gerade gepflanzten Tagetes . Wie oft hatte sich Tante Irene darüber beklagt! Nur eben: Das Haus stand nicht mehr am
Platz. Es sah aus, als hätte nie vorher ein Haus
dort gestanden. Keinerlei Mauerreste, kein Hinweis auf Tante Irenes Tische
Stühle, Bänke, Schränke, Bücher...nichts. Ich muß es noch
mal sagen: Ich zweifelte an meinem Verstand. Sicher, es war schon mal die Rede davon
gewesen, das betreute Wohnen in Anspruch zu nehmen- mit Pflegegarantie. Dann
hätte man das Haus verkaufen müssen, aber Tante Irene wollte von einer
solchen Lösung nichts wissen. Sie ließ mich reden, sagte nichts
, tat aber auch nichts. Typisch. Und jetzt sollte alles innerhalb einer
Woche abgewickelt worden sein? Ich setzte mich an den Tisch mit
blau-weiß-gestreifter Decke- kam langsam ein bisschen zur Ruhe. Ich mußte die Nachbarn fragen, die Polizei. ”Ja, ja, wir
haben uns auch gewundert, aber als das Haus vor zwanzig Jahren gebaut wurde,
ging das auch sehr schnell, innerhalb eines Tages”. Nein, die Nachbarin habe
sich nicht verabschiedet, was aber hier in der Gegend niemanden in Erstaunen
versetzt hätte. Mein Gott ja, man müsse die Polizei rufen “Beruhigen Sie
sich. Sie ist doch noch ganz gut beieinander mit ihren 65 Jahren, war auch
immer draußen im Garten. Irgendwo muss sie doch sein. Rufen Sie die Heime in der Gegend an. Klar,
Sie können von hier aus telephonieren.
Mit Handys isses zu teuer...” Ach ja, der langen Rede kurzer Sinn , wir fanden keine Spur von Tante Irene.
Vermisstenanzeige, Mordverdacht, Fernsehen- nach einem Monat schwand das
öffentliche Interesse, der ‘Fall Irene S.” kam zu den Akten. Bis auf
weiteres. Aber ich wurde nicht fertig damit, hatte
auf einmal Zeit. An jedem Wochenende hielt ich mich in Wüstenwald auf., setzte mich an den Tisch, las die Schnecken ab,
harkte, zog Gras aus den Ritzen und ...suchte. Es war schon seltsam, dass ich das Buch
nicht vorher gesehen hatte. Es lag eigentlich ganz sichtbar da, und zwar ziemlich genau an der gleichen
Stelle, wo das Bett gestanden haben mußte. So, als
hätte meine Tante das Buch, in dem sie eben noch etwas notiert hatte, neben
sich gelegt. Aufgeschlagen- mit dem Kugelschreiber in der Faltstelle .Tante
war immer eine fleißige Tagebuchschreiberin gewesen. Der Urlaub auf Ibiza vor drei Jahren. Ja,
hier: Jetzt wurde es interessant. 15.
Mai Ob
ich nicht endlich hier wegziehe? War das heute wieder ein Regen! Und dann
noch dieser Brief heute morgen. Immer wieder geht
es um die Mauer, die Birtes Mann vor x Jahren- wie
lang ist das doch schon wieder mal her? gegen die vielen Brennesseln
vom Nachbargrundstück. gebaut hat. Hat übrigens die Brennesseln
kaum irritiert, die wuchsen über die Mauer .... Und
jetzt immer wieder dieser Ärger, weil Frieder nicht so richtig auf die genaue
Grenzziehung aufgepaßt hat. Er sagt-ich höre ihn
noch heute: “Bei den vielen Brennesseln fällt das
sowieso nicht auf. Wen interessiert das?” Hätte
ich bloß mehr aufgepaßt, was er macht. 1.
Juni Der
Regen hört nicht auf. Und jeden Tag sammle ich Schnecken, zehn
, zwanzig am Tag. Mit Häuschen, auch ohne. Ohne
Häuschen sehen sie aus wie Würmer. Sie sitzen überall, kriechen die Mauer
hoch. Kriechen
auf der Straße. Wenn ich was gesetzt habe, Margariten,
Tagetes- die Schnecken freuen sich.. Es dauert ein
paar Stunden, und man sieht fast nicht mehr, daß da
mal eine Pflanze gestanden hat. Mit Haut und Haar. Wörtlich. 2.Juni Was
können die einzelnen Schnecken dafür? Sie wollen nichts anderes als wir alle,
essen, leben..Aber ich werfe sie in die braune Tonne
und darf mir nicht vorstellen, was passiert. Schnecken,
Brennesseln, Brennesseln,
Schnecken. Garten , nein danke. Hat jemand mal
gemeint, daß Gartenarbeit friedlich wäre? Der Garten -sowas ähnliches
wie Paradies? Der
sollte sich mal mit mir unterhalten. 5.
Juni Da
nehme ich so eine Schnecke hoch, eine mit Häuschen. Ich bin
, wenn ich ehrlich bin,
ziemlich ambivalent. Eigentlich mag ich sie, wenn sie nur nicht diesen
Appetit auf meine Blümchen hätten. Die
Idee, daß man ein sein eigenes Haus überall mit
hinnimmt, ist genau besehen nicht so schlecht. Hat
man von seiner Umwelt genug hat, zieht man sich zurück, rollt sich ein. Und
Schlüssel sind nicht nötig.. Überhaupt,
wozu brauche ich Schlüssel? Was soll ich mit dem ganzen Kram, der sich über
Jahrzehnte hin angesammelt hat. Wenn jemand sich was nimmt, soll er doch....
Ist nur so eine Idee. 14.
Juni Frau
Beseleit war gestern hier. Wir haben hinten am Tisch vor dem Mäuerchen
gesessen. Von alten Zeiten erzählt.
Ein Schwätzchen. Vor uns krochen sie die Treppen
hoch. Schnecken -Würmer, braun. Frau
Beseleit
meint, ich soll mit Herrn Sauer reden- wegen dem Mäuerchen. Ich kann
das nicht. Wenn, dann schreibe ich. Muß mal mit
Birte reden. Hat sowieso alles keinen Sinn. 15.Juni
Die Nachbarn haben Gift gestreut. Wenigstens
auf der Straße liegen sie herum. Tot. Zusammengekrümmt. 3 Das
Beet vorne : Ich darf nicht dran denken, in mehreren Schichten liegen sie übereinander,
Schwarz, nicht mehr braun Nachdem ich mich doch zu Schneckenpulver entschieden habe... Aber
die Blätter und Blüten, nein die haben
immer noch keine Chance. 20.
Juni Wenn
ich ein braunes Blatt sehe, ein bißchen
zusammengerollt, denke ich : das ist eine Schnecke. Seit
gestern krumpelt der Magen. Mir ist schlecht, ich hab’ keinen Hunger.
Essensreste stehen in der Küche herum. So
furchtbar weh tut’s nicht. Besonders im Bett nicht. Doch ja, Tee trinke ich
schon, Magentee, da lüge ich Birte am Telephon nicht an. Sie ist ja ein gutes Kind, würde auch
kommen. Aber was soll sie hier? Wenn es mir wieder besser geht, setzen wir
uns draußen an den Tisch. Ich habe extra die blau-weiße Decke besorgt. Aber
da sind ja die Schnecken. 23
Juni Birte
ruft nicht an. Soll ich? Ach , es bringt ja doch nichts. Ich habe auch keine Lust
mehr, was zu lesen. Zu essen schon gar nicht. Es ist jetzt heiß. Meistens
lasse ich die Rolläden herunter. 27.
Juni Vom
Bett aus sehe ich nichts mehr. Es wird enger. Dunkel. Ich wollte in die
Küche, um mir einen Tee zu kochen. Das ging nicht. Ich kann auch nicht sagen,
warum. Es war so, als wäre die Küche gar nicht mehr da. Verrückt. Unheimlich.
Häuser können doch nicht von sich aus schrumpfen??!!! 30.
Juni Ich
habe geträumt. Ich kann’s nicht sagen. Oder
doch. Es
wurde enger, noch enger, die Wände des Zimmers wuchsen auf mich zu. Hüllten
mich ein. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich oben an die Decke anstoßen. Decke?Decke? Nur vorne eine Öffnung . Licht. Vorsichtiges
Tasten. Fühler ausstrecken, vorstrecken, mich dehnen Wohlig. Da war Licht. Auch Feuchtes Ich wollte
essen, nur essen. Fressen. Frau Beseleit hat
einen Kondolenzbrief geschrieben, ist ganz erschüttert. Sie fragt mich, wohin
mit dem Kranz? |