Liebes-Geschichten-Geschichten
“Wir wissen, wie’s funktioniert- sogar
sehr genau
wissen wir das aus dem Biologieunterricht! Aber wir möchten eine
richtige
Liebesgeschichte lesen- keinen Kitschroman, Sie verstehen ?!!”
Das
war vor dreißig Jahren, und die Schülerinnen waren
fünfzehn.
Damals gab es den ‘Honigfalter’ noch nicht. Ich hätte keine
Sekunde gezögert, einen Klassensatz zu bestellen!
Stattdessen lag sie nun vier mal in der
Woche
im Deutschunterricht auf den Schultischen: die schmucklose
Reclamausgabe
von Adalbert Stifters Novelle ‘Brigitta’.. Es ging um eine ‘werdende’
Liebe,
um die Liebe eines schönen Mannes zu einer häßlichen
Frau.
Es ging um Verletzlichkeiten, um das langsame Aufbrechen einer harten
Schale.
Unter den 26 Damen im ‘Honigfalter’, die
lieben
und geliebt werden, gibt es keine häßlichen Frauen,
unscheinbare
schon- so wie Ingrid, deren rotgelockte Schwester bei den Herren immer
das Rennen macht. Schließlich und endlich gewinnt sie ihren
Francois
trotzdem.(Annemarie Nikolaus: Der erste Versuch). Die meisten sind
jung,
schön, begehrenswert, so wie es sich gehört!! Etwas rabiat
geht
es manchmal zu- so als die geliebte Frau, Kassiererin in einer
Tankstelle,
ihrem Verehrer Pfefferspray ins Gesicht wirft.
Unter den Herren, die lieben und geliebt
werden,
ist die Variationsbreite schon etwas größer. Nachdenklich
haben
mich gerade die älteren Herren gemacht, wie Iwan, der für die
Frau seines Herzens regelrecht hungert, nicht wie es in der
Überschrift
heißt: ‘fastet’(Dietmar Hübner: ‘Iwan fastet’).oder die
völlig
aussichtslose Liebe des ‘dummen’ August zur umschwärmten
Tänzerin
‘Graziella’!(Sylvia Konstantinou: Als die Farben Trauer trugen).
Ausgerechnet die Geschichte, in der
eine
emanzipierte Frau auftritt, spielt nicht in der Gegenwart,
sondern
liegt weit zurück. Sie findet in Österreich statt, im Jahre
des
Herrn 1759(Fran Henz: ‘Träume’).Keine Liebe auf den ersten Blick,
sondern eine ‘werdende’ Liebe, die viel Kraft und auch
Selbstbewußtsein
von der Frau abverlangt.
Die Tatsache, daß der Ort der
Handlung
in der Vergangenheit angesiedelt sein kann ( Angelika Brox :
Sternrubin,
oder Bluthochzeit von Ingrid Fohlmeister) oder in der Zukunft(Gudula
Georing:
Anders , Barbara Jung: Der einsame Fels), bringt Farbe und Abwechslung
in die Anthologie.
”Ich liebe dich” das sind die letzten
Worte
in der letzten Geschichte(Der einsame Fels). Nun sollte man nicht
denken,
es handele sich doch um eine triviale, sentimentale Liebesgeschichte,
in
der diese Worte nicht fehlen dürfen. Aber es ist ganz anders: Der
der hier geliebt wird, ist kein Mensch, und die Liebe
geschieht
in einer Welt, die weit in der Zukunft liegt...
Übrigens: Ich glaube, daß
nicht
nur fünfzehnjärige Mädchen sich für den
‘Honigfalter’
interessieren werden. Auch ihre Mütter und Großmütter
haben
ihre wahre Freude daran. Die Väter auch?
Andreas Schröter(Hrsg):‘Honigfalter'
26
Liebesgeschichten, Dortmund 2003, Schreiblust-Verlag
|