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Günter Grass: Mein Jahrhundert

Ein Buch, das sich gleich als Besonderheit ausweist. Da fehlt der Orientierung gebende Klappentext, Hinweise auf weitere Werke etwa im Anhang sucht man vergeblich. Die Werke kennt man!
Jetzt nach Beendigung der Lektüre summen und brummen mir die über 90 Stimmen, die im ‘Jahrhundert’ zu Wort kamen, im Kopf. Kinder, Hausfrauen, Industriearbeiter, Journalisten, Schriftsteller, Großmütter... alles in allem eine Geschichtsschreibung von unten, wenn da nicht auch Ihre Majestät, Kaiser Wilhelm II. zu Wort kommen würde.’Heute(1911) habe ich meinen Marineminister Tirpitz, der im Reichstag so trefflich den Linksliberalen einzuheizen wusste, zum Großadmiral ernannt’
Ein Junge hört auf den Schultern seines Vaters (1907) dem ‘Massenredner’ Liebknecht zu.
Einige Jahre später 1925 wird ein ‘quengeliges Kind’ mittels Detektorempfänger nebst Kopfhörer zum Vorläufer der Walkmangeneration.
Überhaupt spielt die Entwicklung technischer Möglichkeiten eine wesentliche Rolle. Was bedeutet der  Zeppelinflug über den Atlantik gegenüber der ersten Plattenproduktion? "Mit der Schallplatte und dem Grammophon erfindet die Welt sich neu." Aber der erste Schallplattenstar Schaljapin hat sich vor jeder Aufnahme bekreuzigt.(1908). Die Verbreitung des Fernsehens verhilft 1952. einem Gastwirtehepaar zur Existenzsicherung. Immerhin musste man damals in der Regel noch in einem Gasthaus einkehren, um Familie Schöllermann zu sehen.-
1952 hat Stalin das Angebot einer Wiedervereinigung mit dem vom Westen geforderten freien Wahlen gemacht(Stalinnote)- davon erfährt man nichts, aber immerhin kann sich Grass im Zusammenhang mit dem 17. Juni selbst zitieren: ‘Die Plebejer proben den Aufstand.’ Autobiographische Züge? Ja, es gibt Geschichten, in denen eigene Erfahrungen wiedergegeben werden. Als sich beispielsweise der Erfolg der ‘Blechtrommel’ abzeichnete, kommentiert der  Icherzähler Günter Grass: "Jetzt ist sie endlich da, die deutsche Nachkriegsliteratur: Billard, Mutmaßungen, Blechtrommel." Er tanzt  mit seiner Frau Anna auf dem Fest zur Feier des Bestsellers und hört, wie jemand aus dem Publikum bemerkt: "Oskar tanzt."
Das Schlußwort hat eine alte Dame, eine Kaschubin, die im Seniorenheim ‘Augustinum’ ihrem 103 . Geburtstag entgegensieht: "Und auf 2000 freu ich mich auch. Mal sehen, was kommt...Wenn nur nicht wieder Krieg ist ...Erst da unten und dann überall..."

Ich hatte die Lektüre noch nicht beendet, als ich zufällig die Stimme von Günter Grass im Rundfunk erkannte. Es handelte sich um eine Lesung aus ‘Mein Jahrhundert’.
Zu hören war  die Geschichte zum Jahr 1964. Thema des Geschehens: Der Prozeß gegen die Täter von Auschwitz.