Die Monddiebe

von Willi Corsten

Der Verlust eines Schlüssels sorgte schon für manche Überraschung, die folgende Geschichte stellt all‘ dies in den Schatten. Doch lesen Sie selbst, was ich vor einigen Wochen erfahren habe.

Hinter den Bergen liegt ein verträumtes Dorf, das auf seinem Ortsschild den Namen Einfältigkeit trägt. Die Bewohner waren stolz auf ihren Bürgermeister, der sich in acht Schuljahren bis in die dritte Klasse hoch gearbeitet hatte. Eines Tages geschahen in dem Dorf seltsame Dinge, deren Folgen man noch heute auf der ganzen Erde beobachten kann.

Der Gemeinderat tagte damals im Krug zum Wilden Eber. Als die Herren spätabends heimwärts wankten, stürzte der Bürgermeister in einen Misthaufen und verlor den Hausschlüssel. Seine Begleiter eilten herbei und halfen bei der Suche. Vergebens, denn die Straße lag in tiefer Finsternis.

Später konnte niemand mehr sagen, ob der eigenwillige Duft das Denken der Männer beflügelt hatte oder ob der Zorn des Bürgermeisters schuld gewesen war. Jedenfalls sollte der Ort nun endlich Licht bekommen. Die Herren kehrten zurück in die Schenke, bestellten eine weitere Runde Bier und überlegten mit rauchenden Köpfen, was da zu machen sei. Der Hufschmied wollte Glühwürmchen in Gläser sperren und damit die Bäume dekorieren. Der Postbote hatte eine andere Idee. Er verlangte für jeden Tag eine Flasche Branntwein. Davon würde allmählich die Nase rot und könnte das Dunkel durchdringen. Auch der Dorfschullehrer war bereit, etwas für die Allgemeinheit zu tun. Weil der arme Tropf zu Hause eine zänkische Frau und eine bitterböse Schwiegermutter hatte, sagte er: „Wir schicken die Weibsbilder mit brennenden Kerzen durch den Ort und lassen sie erst um Mitternacht zurück ins Haus.“

Der Bürgermeister aber fegte all‘ die Vorschläge vom Tisch, verwies auf seine hohe Schulbildung und meinte: „Kluge Männer helfen sich selbst. Sie holen den Mond vom Himmel und hängen ihn über der Straße auf.“

Noch in der selben Nacht trommelte man den Zimmermann aus dem Bett. Er sollte die längste Leiter der Welt bauen. Dann kaufte man einen Ballen Leinenstoff, trug ihn zum Schneidermeister Wibbelschnapp und erklärte dem verduzten Mann, dass er daraus einen Sack nähen müsse, groß genug, um den Mond zu verstauen.

Zwei Wochen später kletterten die Männer zum Himmel empor. Als letzter keuchte der Bürgermeister die Leiter hoch. Auf seinem Rücken trug er den Leinensack und wunderte sich, wie schwer das gute Stück war. Er konnte ja nicht ahnen, dass der Sohn des Müllers zuunterst in dem Packen steckte. Der Schlingel wollte die Mondexpedition keinesfalls versäumen und war heimlich in den Sack gekrochen.

Als die Helden angekommen waren, stülpten sie den Leinensack über den Rand des Mondes und zogen los. Sie zerrten und zurrten an dem Sack und stopften immer mehr von dem runden Gesellen hinein.

Der Müllersohn fand die Sache lustig und lachte vergnügt. Doch als der Mond tiefer in sein Versteck rutschte, fürchtete der Jungen, erdrückt zu werden. Geschwind holte er das Federmesser aus der Tasche, schlitzte das Tuch unten auf und zwängte sich ins Freie. Der Mond schlüpfte sogleich hinterher, und plötzlich erstrahlte sein Licht wieder dort, wo die Männer den Raubzug begonnen hatten.

Zornig hatte der Wolkengott zugeschaut. Er schleuderte feurige Blitze durch die Luft und verdonnerte die Männer dazu, auf ewige Zeiten ihr schändliches Treiben fortzusetzen. Dann machte er den Bürgermeister zum ‚Mann im Mond‘ und trug ihm auf, sorgsam darüber zu wachen, dass die Arbeit pünktlich erledigt wird.

Nur der kleine Müllersohn konnte damals fliehen. Als er den Wolkengott kommen sah, rannte er wieselflink davon, rutschte auf dem Hosenboden die Leiter hinunter und landete wohlbehalten auf der Erde.

Der Junge war es auch, der mir diese Geschichte erzählt hat. Und wer daran zweifelt, muss nur aufmerksam den Mond beobachten. Im steten Wechsel verdunkelt ein schwarzer Schatten sein Gesicht, doch bald schon kehrt der alte Zauberglanz zurück.

Ach, übrigens: Heute findet in Einfältigkeit jeder seinen Schlüssel wieder, weil das Dorf nun beleuchtet ist. Der neue Bürgermeister buddelte nämlich Löcher in den Gehweg, füllte Wasser hinein und lässt nun abends seine Neonfische dort schwimmen.