gelesen von Peter Schünemann


Die alte Sage vom Rattenfänger ist im Anhang dieses Buches abgedruckt. Sie umfasst nicht einmal eine Seite. Rund 370 Seiten dagegen beanspruchen die 18 Geschichten, die das Thema variieren. Auf Einladung des Herausgebers Bernd Rothe, eines gebürtigen Hamelners, lieferten beim BLITZ-Verlag 18 AutorInnen, die in verschiedenen Bereichen des Phantastischen zu Hause sind, ihren Beitrag zu dem ewig jungen Stoff ab. Entstanden ist eine lesenswerte Anthologie, die bekannten und weniger bekannten Namen auf den Spuren einer der bekanntesten deutschen Sagengestalten folgt.

In der Tat bietet der kleine Ausgangstext viele verschiedene Ansatzpunkte für Phantasien und Phantastisches. Da sind erstens die menschlichen Protagonisten: der Rattenfänger, ein Spielmann, ein Outlaw, aber vielleicht auch der Teufel; das saturierte Bürgertum, das ihn um seinen Lohn betrügt; die Kinder dieser Bürger. Schon vor x Jahren lieferte der Liedermacher Hannes Wader seine Version des Geschehens, die den Rattenfänger entteufelt und die Karten neu mischt – einige der AutorInnen folgen dieser Lesart, am deutlichsten Stefanie Bense („Schattenschläger“, die Eingangsgeschichte) und Frank W. Haubold („Der Puppenmacher von Canburg“, immer wieder lesenswert, ein Highlight des Bandes). – Zweitens wäre da die Idee, es doch auch einmal aus der Perspektive der Ratten zu versuchen – am eindrucksvollsten gemeistert von Barbara Jung in „Die Königin und ihr Gardist“. – Drittens bietet das Wort „Rattenfänger“ in seiner übertragenen Bedeutung wundervolle Ansatzpunkte, für die Satire etwa; wer aber könnte die in einem solchen Forum besser meistern als Christian von Aster („Niederfrequenzmanipulation oder Des großen Rattenfänger Trick“)? Aber auch Christian Schönwetter liefert zu dieser Lesart eine gute Story ab („Die Rattenfänger sind in der Stadt!“). – Sodann haben wir natürlich das Thema des Betrugs und der darauf folgenden Rache (u. a. in Armin Rößlers SF-Geschichte „Der Verlorene“ umgesetzt). Hybriden Gestalten aus Ratte und Menschen entstehen in Alisha Biondas „Mephisto“, wobei auch das Teuflische und das Erotische zum Tragen kommen, oder in Dominik Irtenkaufs „Der Lichtfänger“, eine Geschichte, die in nahezu schwelgerischen Bildern ein hier oft präsentes weiteres Thema ausschmückt: das des Verfalls nicht nur einer Stadt, sondern auch der sozialen Bindungen zwischen den Menschen. Vielleicht ist dieses Motiv nicht das eigentliche Zentrum der ursprüng­lichen Rattenfänger-Sage, in der Anthologie jedoch rückt es in den Fokus vieler Erzählungen.

Blieben noch zwei besondere Beiträge zu erwähnen: Marc-Alastor E.-E.s dunkeldüstere Vampir-Novelle „Nicht ohne Wut, sei vom Lamm das Blut“, welche sprachlich exorbitant die Sage vom Bingener Mäuseturm mit der Hameln-Geschichte und dem Vampirmotiv verquickt, und Markus K. Korbs spannende Horror-Story „Rattenfänger GmbH“, die durch eine außergewöhnliche Hauptfigur und durch einen Showdown in dunklen Gängen überzeugt (Leser mit Ratten- und Klaustrophobie seien vor ihr dringlichst gewarnt).

Auch die übrigen, hier aus Platzgründen nicht genannten VerfasserInnen leisten durchaus Solides, so dass diese Anthologie insgesamt bestens unterhält. BLITZ-Stammillustrator Pat Hachfeld gibt jeder Geschichte per Titelblatt ein eigenes Gesicht; die Autoren zeigen Gesichter in der abschließenden Galerie. Gesamtprädikat: lohnenswert!

http://www.dunkelkunst.de/illus/pic/rattenfaenger/Image2.html

Rattenfänger,  2005 by BLITZ-Verlag GmbH, 394 S., ¤ 9,95, ISBN 3898402681