Im Märchen
haben Kinder, Jugendliche, Erwachsene, Alte ihre Rollen. Sie
stellen sich den Herausforderungen, d.h. sie werden geprüft. Aber
sie
wandeln sich nicht. Oder kann man sich Rotkäppchen als alte Frau
vorstellen, Schneewittchen im Altenheim?
Doch, man kann, wie uns Ursula Eggli zeigt.
Da klettert Rotkäppchen auf den hohen Hocker in einer
Frühstücksbar und
rutscht „ ihre gewaltigen Hinterbacken“ zurecht. Gewaltige Hinterbacken
bei dem grazilen kleinen Mädchen mit der roten Kappe? Es waren
Jahre
nötig, um eine solche Veränderung zu bewirken.
Schneewittchen, bewegt
sich mittels Gehgestell im sechsten Stock eines Altersheimes...
In kurzen Geschichten von etwa zwei bis drei Seiten erfahren wir etwas
über das Ergehen bekannter Märchenfiguren, nachdem sie
‚Grimmsland‘
verlassen haben. Immer behalten sie wesentliche Kennzeichen aus ihrer
Grimms- Glanzzeit, auch in den neuen, meist nicht so erfreulichen
Lebensumständen. Als Beispiel noch einmal Schneewittchen. Im
Altenheim
schaut sie in den Spiegel- rein zufällig und völlig
unvorbereitet.
Spiegel hatten ihr immer gesagt, dass sie die Schönste im Lande
sei.
Wie sollte sie es nun verstehen, wenn der Spiegel im Altenheim ihr eine
alte Frau zeigte, die sich mit dünnen Fingern an einem
Gehwägelchen
festhielt? Es ist eindeutig: Dieser Spiegel lügt!
Oder Frau Holle, die durch ihr Weggehen eine Klimaveränderung
bewirkt.
Sie kann auch in einer neuen wärmeren Umgebung nicht aufs
Federbettschütteln verzichten, was irritierende klimatische
Erscheinungen zur Folge hat.
Alle Geschichten spielen im Hier und Heute. Und auch die Computerwelt
kommt folglich nicht zu kurz. Wen wundert es, wenn die
Müllerstochter
in ‚Rumpelstilzchen‘ zur Chefsekretärin mutiert. Sie hat ihre
große Not
nicht mit dem Spinnen von Goldfäden, wohl aber mit den Tücken
des PC.
Doch es gibt da einen Mitarbeiter, der wegen seines Äußeren
‚Rumpelstilzchen‘ genannt wird...
Nun, Spiele mit den Märchenstoffen hat es immer schon gegeben. Es
gibt
Beispiele aus der Romantik. Wer kennt nicht den ‚Gestiefelten Kater‘
von Ludwig Tieck?
Die Geschichten von Ursula Eggli, die auch in der Sprachgebung
‚modernen‘ Wendungen nicht abgeneigt sind, zeigen uns unsere vertraute
Welt aus einer merkwürdig verfremdeten Sicht. Manchmal ist das
ganz
lehrreich, zum Nachdenken anregend, meist aber doch ausgesprochen
vergnüglich.
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