Regine Huft

Viehzählung

„Wie Sie wissen, Frau H., einmal im Jahr müssen wir den Viehbestand zählen. Aus volkswirtschaftlichen Gründen. Damit wir wissen, wieviel Fleisch jeder Volks= genosse jetzt im Krieg selbst erzeugt. Und dann wird verrechnet. Also, Schweine haben Sie nicht. Kühe natürlich auch nicht. Aber Hühner. Wieviele Hühner haben Sie?"
Der Mann sah in seine Liste. Ich saß mit am Tisch. Natürlich hätte ich sofort sagen können, wieviele Hühner bei Tante Mariechen, meiner Pflegemutter, draußen herumliefen. Aber Tante Mariechen kam mir zuvor und sagte: „Acht." Ich sprang auf und rief: „Zehn!" „Acht!" „Zehn!", „Acht, geh in den Hof und zähl nach", sagte Tante Mariechen mit einem beschwörenden Unterton.
Ich rannte hinaus und zählte: acht, neun, zehn. - Im dritten Schuljahr konnte man doch bis zehn zählen -und meldete das Ergebnis in der Stube: „Zehn."
„Acht!" sagte Tante Mariechen bestimmt.
„Acht", wiederholte der Mann und schrieb diese
 Zahl in die entsprechende Rubrik.
„Und Kaninchen haben Sie doch auch. Wieviele?"
„Sechs", antwortete Tante Mariechen prompt, ich wußte genau, daß es acht waren, darunter zwei weiße, die ich immer allein füttern durfte.
Empört sprang ich wieder auf und schrie: „Aber wir haben doch acht Kaninchen!" Ich verstand Tante Mariechen nicht. Sie wußte doch sonst über alles genau Bescheid,
Sie wurde böse und schickte mich in den Stall: „Du zählst nach. Es sind sechs."
Wieder bestand ich auf der richtigen Anzahl, denn auch sie hatte mich zur Wahrheitsliebe erzogen.
Der Mann lächelte und schrieb in sein Papier: „Sechs Kaninchen", wie Tante Mariechen gesagt hatte, und ging.
Tante Mariechen versuchte mir zu erklären, ja was? Daß in Notzeiten Notlügen erlaubt sind? Für mich als Achtjährige stürzte ein Weitbild ein. Ganz langsam wuchs in mir die schmerzhatte Erkenntnis; Du sollst zwar immer die Wahrheit sagen, aber nicht jede.