Brot
16. Floreal*: Wachwechsel auf der Gendarmerie
in der Rue de la Tixeranderie. Jean-Pierre Chalandon begrüßte
seine Ablösung mit düsterem Blick: „Heute nacht haben wir vier
schwangere Frauen aus der Seine gefischt. Nur eine von ihnen konnten wir
retten: Claire, die Tochter der alten Weißnäherin Dechamps."
Er klimperte mit den Sous in seiner Jackentasche
und lächelte trotz allem. Es würde ein Mai-Tag, wie er in Paris
nicht schöner sein konnte; und seine Frau hatte Geburtstag. Er wollte
sie mit einem guten Stück Fleisch überraschen. Auf dem St.-Katherinen-Markt
kannte er einen Metzger, der ihm noch einen Gefallen schuldete, weil er
ihn dabei erwischt hatte, dass er rationiertes Fleisch an den Koch eines
Papier-Fabrikanten verkauft hatte. Sicher würde er dennoch weit mehr
als das zulässige Maximum zahlen müssen, aber das war ihm heute
egal.
‚Das war Mord‘, dachte Jean-Pierre entsetzt
und blieb abrupt stehen, um keine Spuren zu zerstören. ‚Das hat gerade
noch gefehlt!‘ Er war unschlüssig, was er nun tun solle. Sein Dienst
war eigentlich zu Ende, und wenn er nicht gleich zum Markt ginge, bekäme
er überhaupt kein Fleisch mehr.
Die Frage, was jetzt, klärte sich
durch den eintretenden Inspektor Roux: „Guten Morgen, Bürger Chalandon.
Hast du schon etwas entdeckt?"
„Oder das Brot hat ihn nicht interessiert." „Glaubst du wirklich, dass jemand auch nur ein Stück Brot liegen lässt?" „Nein," gab der Inspektor zu. „Das kann
ich mir eigentlich nicht vorstellen. Aber vielleicht ist er gestört
worden."
Aber Jean-Pierre ging nicht direkt zum Markt. Er wollte mit Michel sprechen. Als er zur Gendarmerie zurückkam, erfuhr er jedoch, dass der Sitzungssaal des Wohlfahrtsausschusses von rebellierenden Hausfrauen belagert wurde und Michel mit einigen Kollegen zum Schutz der Komitee-Mitglieder befohlen worden war. Jean-Pierres Marktbesuch war dagegen ein voller Erfolg. Er bekam für seine Ersparnisse nicht nur ein großes Stück Lammschulter, sondern erstand auch noch eine Flasche guten Rotwein und zwei Eier. Damit würde nicht nur das Abendessen ein Fest, sondern auch das nächste Frühstück war gesichert. Nachdem er seine Schätze zuhause deponiert hatte, mochte er nicht untätig warten, bis Charlotte aus dem Club der Citoyennes Républicaines Révolutionnaires heimkehren würde. Er musste Michel finden. "Brot und die Verfassung von 1793" hörte er schon von weitem die Rufe der Menge vor dem Sitz des Wohlfahrtsausschusses. Sie stand dicht gedrängt vor der Einfahrt; ihr zugewandt Michel und die anderen Gendarmen mit gezogenen Pistolen. „Die Kommissäre haben das Mehl für unsere Kinder gestohlen", schrieen die Frauen den Polizisten zu. „Im Namen des souveränen Volkes und des Gesetzes: Es ist eure Pflicht, sie in Arrest zu nehmen." „Wir haben euch nicht betrogen", erschall eine Stimme aus dem ersten Stock. Ein Ausschuss-Mitglied hatte sich ans Fenster gewagt: "Ihr habt uns gewählt. Ihr habt hier nichts zu befehlen. Das ist Aufstand!" „Jawohl, das ist Aufstand", entgegnete
ein junges Mädchen in der ersten Reihe, die Plätterin Josephine
Rouillière. „Ihr seid abgesetzt. Wir wählen auf der Stelle
andere." Sie drehte sich um; ihr Blick ging über die Menge, suchte
die wenigen anwesenden Männer: „Bürger Moreau! - Bürger
Duplessis! - Bürger Grimond! - Bürger Fielval!" – Jean-Pierre
wünschte sich unsichtbar zu werden, als ihr Blick in seine Richtung
fiel. – „Bürger Chalandon, wunderbar!" Sie strahlte ihn an: „Ich schlage
vor, euch als Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses zu wählen!"
Nach einem Blick auf Jean-Pierre steckte
Michel die Waffe ein; die anderen folgten seinem Beispiel. Sie hatten die
Wahl anerkannt; die Konfrontation war vorüber.
„Hilfe!", ertönte es bei ihrem Anblick aus dem ersten Stock. „Halt!", rief Jean-Pierre den Soldaten
zu. „Wir brauchen eure Hilfe nicht. Es ist alles geregelt." Im nächsten
Moment hörte er einen Knall. Aus dem ersten Stock war geschossen worden.
Der Schuss hatte Michel getroffen. Er keuchte.
„Bürger Chalandon!" Ein Hauch von Spott lag in seiner Stimme. „Was
machst du denn hier? Solltest du nicht jetzt mit Charlotte feiern?"
Michel erbleichte. Dann nickte er und flüsterte: „Da hab ich heute morgen wohl wieder einmal zu viel geredet. Aber jetzt ist das auch egal." „Es ist egal", bestätigte Jean-Pierre
leise. „Außer mir hat es niemand gehört."
Zwei Tage später starb Michel im Hospice
de l‘Humanité.
© Annemarie Nikolaus, Oktober 2001
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