Dieses Blau, es strahlt einfach unglaublich. Noch nie hat er in seinem
Leben eine solche Farbe gesehen, so gleichmäßig, mit einer
solch faszinierenden Tiefe. Es vermittelt den Eindruck von Bedeutung, dieses
Blau entwickelt für ihn eine nicht zu beschreibende
Wichtigkeit. Viel ist von der Farbe eigentlich nicht zu sehen, einzig das
Dreieck des Gestänges glitzert in dieser blauen Lackierung,
alles andere gestaltet sich aus matt glänzendem Chrom und Aluminium.
Mit einer Hand hält er sein Rad lässig an dem nach unten
gewölbten Rennlenker. Ein kleiner Seitenblick streift noch einmal die
professionelle Ausrüstung seines Rades - zweifache
Schaltung, eine am Lenker, eine am Rahmen, 24 Gänge, Zahnkränze
von unterschiedlicher Größe, sechs hinten, vier vorne,
natürlich fast profillose Schmalspurreifen, die beiden Bremshebel sind
der Wölbung des Lenkers angepaßt. Obwohl er das Rad nur
mit einer Hand den Berg hochschiebt, verspürt er kaum das Gewicht des
Gefährts. In seinem Stolz glaubt er beinahe, das Rad fliege
alleine vorwärts.
Den steilen Anstieg an dieser Stelle wollte er eigentlich auf dem Rad
bewältigen. Noch zeigte er sich unsicher in der Handhabung,
schaltete viel zu spät in die kleinsten Gänge. So fehlte ihm nach
der Hälfte des steilen Anstiegs endgültig die Kraft. So schiebt
er
sein neues Rad die letzten Meter der sich emporwindenden Straße hinauf.
Obwohl die Uhr bei der Abfahrt erst kurz nach sieben
zeigte, verbreiten die ersten Sonnenstrahlen bereits angenehme Wärme.
Die sechs Kilometer des Weges bergauf in die Schule
bewältigt er mit täglicher Regelmäßigkeit. Zumeist
fährt er alleine, die wenigen anderen Kinder im Dorf sind älter
und anders, zudem
alle sehr viel schneller mit dem Rad. Bei seiner ersten Fahrt mit dem Rad
zur Schule vor zwei Jahren weinte er deswgen.
Mittlerweile hat er sich an seinen Status als langsamster Fahrer gewöhnt.
Doch ab heute ändert sich alles, er besitzt sein neues, blaues Rennrad.
Heute, vielleicht immer, wird er der erste in der Schule oben
auf dem Berg sein. Die anderen können ihn nicht mehr einholen, sie fahren
jetzt erst aus dem Dorf im Tal los. Zwei Schweißtropfen
perlen von seiner Stirn auf sein bereits durchschwitztes Hemd. Er bleibt
stehen und holt erst einmal Luft. Der Schatten eines
Baumes gewährt erfrischende Kühle. Das pausbäckige Gesicht
zeigt Erschöpfung. Sein Blick streift hinunter ins Tal und erblinzelt
gegen die Sonne die wenigen Höfe. Der sich durch das Tal windende Bach
glitzert bis hier oben, die ersten Felder ergrünen bereits.
Einzelne Traktoren ziehen lautlos ihre Bahnen.
Das nicht ganz neue Rennrad bekam er gestern vom Vater geschenkt. Zumeist
sieht er seinen Vater nur spät am Abend, wenn er
mit einem Transporter einer Firma von den entfernt liegenden Arbeitsstellen
heimkommt. Am Abend erwartet er ihn auf der
steinernen Treppe ihres kleinen, noch lehmverschmierten Hauses, streichelt
dabei den uralten, bissigen Schäferhund mit dem
Namen Astor. Der Hund gehört dem Bauern, wie auch das Haus, in dem sie
preiswert seitlich am Hofgelände wohnen. An dem
Feiertag in der vergangenen Woche durfte er mit dem Vater zusammen ihren
riesigen, neuen Garten bestellen. Früh am Morgen um
fünf begannen sie am Rand des Dorfes mit dem Umgraben einer alten Wiese.
Der Vater hatte von seiner Arbeitsstelle eine spezielle
Maschine mitgebracht. Schon jetzt freut er sich auf das Wachsen und Ernten.
Täglich beobachtet er die Pflanzen, gießt den
wachsenden Salat und hackt das nachwachsende Unkraut aus. Zum Schutz vor
Rehen und Hasen haben sie einen Zaun rund um
ihren Garten gezogen. Das Rennrad erwarb der Vater ganz billig von einem
Arbeitskollegen aus Holland. Der hatte es bei
Aufräumarbeiten gefunden. Mit wenigen Handgriffen erstrahlte es schon
am selben Abend im fast alten Glanz. Heute darf er es
endlich zeigen. Alle Kinder werden es sehen. Keiner besitzt so ein Rennrad
wie er, ein blaues Rennrad, sogar ohne Lampen.
Der zu schwere Körper wuchtet sich wieder auf das Rad. Mit schnaufendem
Atem tritt er die letzten Meter des Anstiegs empor. Die
noch viel zu kurzen Beine erreichen mit Mühe die Pedalen. Gleich wird
er die Schule sehen. Vielleicht hätte er doch nicht so früh
losfahren sollen, denn noch ist kein anderes Kind weit und breit zu erblicken.
Er stellt sein Rad ganz vorne in den Fahrradständer
und setzt sich daneben. Nach und nach erreichen die anderen, einige alleine,
viele zu zweit, zu dritt oder viert, das Schulgebäude.
Sie reden über die Vorhaben am Nachmittag, von der Schule oder anderen
Dingen. Kurz vor dem Unterrichtsbeginn entwickelt sich
noch ein Fußballspiel mit einer alten Dose. Auch der gestrenge Lehrer
eilt achtlos an ihm vorbei.
Der Schulvormittag beginnt mit kaum zu überwindender Enttäuschung
und quälender Langsamkeit. In seinem Kopf reift ein
Entschluß, formt sich im Laufe des Vormittags zu einer Entscheidung.
Er wird der Schnellste sein, den es jemals gab.
Seit Jahren messen sich die Kinder aus dem Dorf in einem Wettstreit. Es gilt
die Strecke von der Schule zurück ins Dorf in der
schnellstmöglichen Zeit zu bewältigen. Der Weg ist genau bemessen.
Die Kante des Zauns am Ausgang der Schule ist der Start,
der uralte Baum an der ehemaligen Poststadion mitten im Dorf bildet das Ziel.
Den Weg dazwischen darf sich jeder selber wählen.
Doch es gibt eigentlich nur den einen Weg über die Straße.
Natürlich existiert noch ein alter Fußweg quer durch den Wald,
den
gehen sie im Winter zu Fuß, wenn es geschneit hat. Mit dem Rad ist
der Weg viel zu steil und gefährlich. Doch er wird diesen
gefährlichen Weg mit seinem neuen Rad als erster bewältigen. Der
Weg durch den Wald bedeutet eine Abkürzung von über einem
Kilometer. Er wird eine neue Rekordzeit aufstellen, die für lange Bestand
haben wird, vielleicht für immer.
In der zweiten großen Pause verkündet er den Entschluß,
nur von einigen Mitschülern beachtet. Von jetzt an, er erfaßt
die
Bedeutung der öffentlichen Ankündigung, gibt es kein zurück
mehr.
Das Schulende ist erreicht, die Uhren werden verglichen. Einige Kinder fahren
bereits vorher ins Dorf zurück, um die Ankunftszeit
genau zu stoppen. Andere überwachen die genaue Abfahrtszeit. Um genau
ein Uhr darf er starten, erste Kinder bemerken sein
neues Rad.
Er wird der Schnellste sein, den es jemals gab. Sein Entschluß ist
endgültig. Noch dreißig Sekunden bis zum Start, wenige
aufmunternde Sätze begleiten sein Warten. Schon beinahe beiläufig
erfolgt die Abfahrt, sein Rennen verspricht keine Spannung.
Doch plötzlich tritt große Verwunderung unter den am Start
verbliebenen Kindern ein. Er wählt den Weg nach links, den Feldweg
quer durch den Wald. Das hat noch niemand vor ihm gewagt.
Die gewählte Übersetzung am Rad verlangt noch zuviel an Kraft von
ihm. Mit seinem ganzen Gewicht stemmt er sich gegen den
Widerstand, wuchtet die Pedalen langsam von Umdrehung zu Umdrehung. Nur langsam
wird er schneller, verspürt den Fahrtwind
und erste Mücken im Gesicht. Noch zeigt sich der Weg flach aber uneben,
er spürt jedes Schlagloch. Sein Tempo steigert sich
unaufhörlich, Noch erkennt er jeden der Bäume am Rand des Weges.
Sonne flutet zwischen ihren Ästen, taucht den vor ihm
liegenden Weg in ein Spiel von Schatten und Licht. Die Ränder des Weges
wachsen immer höher, gestalten sich zu steilen
Lehmhängen, mit Ginsterbüschen und Brombeersträuchern bewachsen.
Lockeres Gestein bildet eine rutschige Grundlage seiner
Fahrt. Völlig gerade, steil ins Tal hinabstürzend, hat sich der
Weg mit jedem Tag eine tiefe Bahn in den Berg gefressen. Seine Fahrt
gestaltet sich immer rasender. Bald schon können die Füße
den Pedalen nicht mehr folgen, sein Gesicht verformt sich zu einem
entsetzten Schreien. In einer leichten Kurve rast der lehmige Hang als
Sprungschanze auf ihn zu. Verzweifelt klammert er sich an
den Lenker, erkennt die Bäume nur noch als rasende Schatten. Dann springt
er, fliegt über Sträucher und Büsche. Armes Rad, nur
einmal durftest du es allen zeigen.
Ein explodierender Schmerz an seinem Kopf beendet alle weiteren Gedanken.
Er bemerkt kaum noch das gräßliche Krachen in
seiner Schulter. Nach Augenblicken der Verstörung zieht Ruhe und Schweigen,
eine nicht faßbare Leere in seinen Kopf ein. Er
verspürt keine Schmerzen.
Erst eine Stunde später finden ihn die anderen Kinder und die herbeigeholten
Eltern an einem Baum. Das Blut verkrustet bereits auf
zahlreichen Wunden. Nur mit Mühe gelingt es, ihn ins Dorf zu tragen.
Die gebrochene Schulter schmerzt bei jedem Schritt
entsetzlich. Seine Augen tauchen immer wieder in ein tanzendes Schwarz.
Erst viele Wochen später darf er wieder in die Schule. Er fährt
mit seinem alten Rad. Das neue hat sich in tausenden von
Einzelheiten im Wald verloren, das wunderschöne blaue Dreieck des Rahmens
zu einer unförmigen Erinnerung verknickt. Alle Kinder
fahren die Straße zur Schule empor, die anderen sind zumeist älter
und auch anders. Bald tritt er wieder mühsam weit hinter den
anderen her. Sie sind einfach alle viel schneller, den steilen Anstieg schiebt
er schon von Beginn an. Unter dem breiten Pflaster auf
seiner Stirn quillen die Schweißtropfen hervor. Mit dem Handrücken
wischt er sie ab und lächelt.
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