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- Nachdenken über Kröte T. -



Kröte T. ist eine literarische Figur. Authentisch sind manche Passagen, die auf der Grundlage von Fußspuren entstanden sind. Zu äußerlicher Detailtreue sah ich mich nicht verpflichtet. Nebenpersonen, -kröten & Situationen sind frei erfunden. Wirklich lebende Personen, Kröten und wirkliche Ereignisse sind ihnen nur zufällig ähnlich.

Kröte Wolf




Was ist das:
Dieses Zu-sich-selber-Kommen der Kröten?

(Unbekannter Verfasser)


Nachdenken, ihr nach - denken. Dem Versuch, man selbst zu sein. So steht es in ihren Fußabdrücken, die uns geblieben sind, in den erdigen Boden gedrückt, den man gefunden hat, mitten im Wald, und so klingt es aus ihrem Quaken „Quuuuoooohaaaak“, das ruhelos durch die dunkle Nacht hallt und das ich so gut kenne. Das mich gelehrt hat, dass ich meine Erinnerung an sie, Kröte T., vergessen muss. Die Farbe der Erinnerung trügt.
Wie WIR ANDEREN, war auch sie eine Kröte.
Äußerlich: Ein Mitglied der Familie der Froschlurche, von plumper Körpergestalt, mit kurzen Beinen, drüsenreich, mit warziger Haut; Teil eines Kröten-Kollektivs - eines zeitgenössischen Kröten-WIRS.
Um dieser Geschichte aber ihre volle, kostbare Quintessenz zu entlocken, darf es sich bei genauerer Betrachtung bei UNS nicht um gewöhnliche Kröten handeln, sondern um Amphibien, die einen klaren Verstand besitzen. Um Kröten, die logische Überlegungen anstellen, Vergangenes vergegenwärtigen und sich selbst analysieren können. Denen die Fähigkeit innewohnt, sich zu artikulieren und objektiv zu reflektieren.
WIR sind sozusagen „personifizierte Kröten“.
Doch etwas hat Kröte T. von UNS ANDEREN unterschieden: Das dringende Bedürfnis, der Wunsch „Ich“ zu sagen. Das hat sie zu etwas Besonderem gemacht. Zu einem starken „Ich“ im großen, fantasielosen Kröten-WIR – einer „individualistischen Kröte“, um es einmal so auszudrücken.
So müssen WIR sie verloren geben?
Denn ich fühle, sie schwindet. Endgültig abgewiesen, suchen WIR Trost im Vergessen, das man Erinnerung nennt. Vor dem Vergessen, beteuern WIR aber doch, müsse man sie nicht schützen. Da beginnen die Ausreden: Vor dem Vergessenwerden, sollte es heißen. Denn sie selbst, natürlich, vergisst oder hat vergessen, sich, UNS, Himmel und Erde, Regen und Schnee.
Ich aber sehe sie noch. Schlimmer: Ich gebiete über sie. Ganz leicht kann ich sie heraufbeschwören, wie einen Geist. Da sehe ich sie vor mir hüpfen, ja, dass sind ihre großen Sätze, ja, das ist ihr sanftes Federn. Schlenkrig durchwandert sie die neblige Kälte des frühen Morgens auf dem Weg zum Wasser, wie es zur Paarungszeit üblich ist und wo sie ihre Eier am entlegensten Ende des Teichs in langen Laichschnüren ablegen will.
Auf einmal durchfährt es mich, dass ich bis heute nicht verstanden habe, warum sie dorthin gehen, wozu sie die Laichschnüre in solcher Ferne ablegen wollte. Ich war darüber mehr überrascht als betroffen, denn nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Dieser ferne Laichplatz war nichts als eine Art Instrument, das sie verwenden wollte, um sich inniger mit dem Leben zu verbinden - ein Ort, der ihr von Grund auf vertraut war, weil sie ihn selbst geschaffen hatte, und von dem aus, sie sich allem Fremden stellen konnte.
Sicherheit, ja, auch das.
Vor meinem inneren Auge sehe ich den großen Erdklumpen, der vom Wind bewegt über das Feld rollt und dem sie hinterherläuft. Zwölf, dreizehn Minuten, die noch vor ihr liegen. Soll man hoffen, sie hätte die Antwort auf alle ihre Fragen gefunden? Sie wäre ins Reine gekommen mit sich? Die Spannung hätte nachgelassen? Die Schwingungen wären flacher geworden zwischen mühelosen, glücklichen Aufschwüngen und schrecklichen Abstürzen?
Ich weiß es nicht…
Ihr Leben besteht nur aus Fragmenten. Bruchstücken von Erinnerungen, die ich in mir gehütet habe. Erinnerungen an vergangene Geschehnisse, die ich ihren Fußspuren entnehmen kann. Beides nehme ich verworren wahr. Fakt und Fiktion verschwimmen und formen eine neue Welt… Die Wahrheit?
Oder eine weitere Lüge? Für UNS? Für sie?
So wie die Lehren, die wir Kröten an die Kaulquappen weitergeben, für Kröte T. eine kollektive Lüge gewesen sind?
Es gelingt mir kaum, ihr Leben zu rekonstruieren. Kurzerhand versuche ich die Flut der Bilder in meinem Kopf zurückzudrängen und mich auf den Sinn ihres Lebens – ihr Sinnen – zu konzentrieren.
An ihrer inneren Zugehörigkeit zum Kröten-Kollektiv ist kein Zweifel. Die neue Zeit, die beginnt, nachdem wir uns hinter die natürliche Mauer des Waldes zurückgezogen haben, erscheint ihr wie die Verwirklichung eines alten Versprechens. Die Idee hat UNS erfasst, aus UNSEREN Blättern und Büschen ist sie in UNS eingedrungen. Daran hat sie fest geglaubt. Das Paradies sollte stattfinden, der Mensch zu sich selber kommen.
Aber die Erlebnisse mit den Kaulquappen und ihren Mit-Kröten zeigen ihr, dass die Gewalttätigkeit keineswegs der Vergangenheit angehört, sondern irritieren sie durch neue Verlogenheit. Ihr Bemühen, den Kaulquappen ein Gefühl vom hohen Persönlichkeitswert zu vermitteln, stößt auf völliges Unverständnis.
Kröte T. ist anpassungsunfähig; sie weiß es, es wird ihr oft genug gesagt. Die Unstimmigkeiten, Zweifel und Konflikte kehrt sie nach innen, aber sie verzweifelt letztlich nicht. Irgendwann wagt sie zu denken, dass vielleicht nicht sie es ist, die sich anpassen muss. Irgendwann, aber da ist der Tod schon nahe, hat sie ihre Spur gefunden; die Spur, die sie selber ziehen kann.
Sie hinterlässt ihre Fußspuren im erdigen Boden; häufiger und tiefer als die anderen Kröten tritt sie auf. Bewältigt ihr Leben durch das Spuren-Hinterlassenderweise. Will sich nicht auf das Erreichbare beschränken. Einmal im Leben, zur rechten Zeit, soll man an Unmögliches geglaubt haben, sagt sie oft. Sie scheint ihren Frieden zu finden…
Nun also der Tod. Der braucht noch drei Minuten, und dann ist er vollendet, er lässt keinen Zweifel aufkommen, dass er geschafft hat, was machbar war, er fürchtet sich nicht vor den Festlegungen, denn er braucht sie. Daher lässt sich nicht viel über ihn sagen.
Müssen wir also vom Sterben sprechen.
Es kündigt sich damit an, dass Kröte T. aus dem Kröten-WIR ausbricht und über das Feld zum Teich - dem Ziel ihrer beschwerlichen Lebensreise - gelangen will. UNS fällt das auf, aber ihr nicht. Ein für allemal: Sie braucht UNS nicht. Halten wir also fest, es ist UNSERETWEGEN, denn es scheint, WIR brauchen sie.
Darum versuchen wir, sie aufzuhalten. Vergeblich.
Einen Augenblick später, wird sie von dem Menschwesen „Bodo“ gepackt, wie von einer heimtückischen Krankheit. Doch ihre Pein ist noch unentschlossen. Kröte T. hingegen weiß, dass sie leben möchte! Noch ein allerletztes Mal kann sie sich von dem Leiden freimachen; sie wird auf feuchten, braunen Blättern abgesetzt.
Dann packt sie das Menschenwesen „Hammurabi“ - ein ungleich stärkerer Anfall der Krankheit, die in ihr wuchert. Sie wird hochgehoben. Man hört ihren angstvollen Atem, sieht die weiße Brust pulsieren. Da werden ihre Vorderbeine herunter gebogen, der Mund des Menschenwesens „Hammurabi“ – der Höhepunkt der Krankheit - nähert sich der Hand (ihrem Kopf) und beißt zu.
Die gesunden, blendend weißen Zähne schnappen, einmal, noch einmal. Das Krötenhaupt sitzt fest am Rumpf. Noch einmal schnappen die Zähne zu.
Das hört nicht auf.
Kröte T. will aber nicht sterben. Sie ist keine Kröte, die am Kröten-Kollektiv zerbricht. Sie sehnt sich nach dem Leben. Ich habe das Wichtigste noch vor mir, denkt sie. Und auch ich muss zugeben: Jetzt stirbt man nicht. Es beginnt, was sie so schmerzhaft vermisst hat: dass WIR uns selber sehen; deutlich fühlt sie, wie die Zeit für sie arbeitet, und muss doch sagen: Ich bin zu früh geboren. Denn sie weiß: Nicht mehr lange wird an dieser Krankheit gestorben werden.
Ihre Gedanken offenbaren eine neu gewonnene Freiheit des Handels, die aus der Selbstfreiung von Illusionen erwachsen ist. Aus der durch Erfahrung wohl schmerzlich, aber nicht tödlich gewonnenen Einsicht darüber, dass die Wirklichkeit noch weit entfernt ist vom Gesellschaftsideal der reichen Individualität.
Die Aufgabe des Ideals bedeutet es nicht, vielmehr gewinnt Kröte T. den Mut zum Ich-Sagen und die Selbstgewissheit, in dieser ersten Person an der Zukunft arbeiten zu können: Ich habe das Wichtigste noch vor mir…
Kröte T. wird zurückbleiben.
Einmal wird man wissen wollen, wer sie war, wen man da vergisst. Wird sie sehen wollen. Das verstände ich wohl. Wird sich fragen, ob denn da wirklich jene andere Gestalt noch gewesen ist, auf der die Trauer hartnäckig besteht. Wird sie, also, hervorzubringen haben, einmal. Dass die verstummen und man sie sieht.
Wann, wenn nicht jetzt?


Timo Bader