Gregorio der Schelm

Eine Erzählung aus Lanzarote

Conrad Miesen 

Mit den Jahren war Gregorio Rojas etwas wunderlich geworden. Er bewohnte ein winziges, blendend weiß getünchtes Haus mit den für Lanzarote typischen grünen Fenster-und Türrahmen bzw.-läden und dem orientalisch anmutenden Schornsteintürmchen am Rande von Yaiza im Südwesten der Insel. 
Früh war ihm seine Frau gestorben , und da die Ehe kinderlos blieb und neben einer in Tinajo lebenden Cousine keine weiteren Verwandten vorhanden waren, führte Gregorio ein recht zurückgezogenes Leben in seinem Häuschen und bei der mühsamen Arbeit auf den Kartoffel- und Tomatenfeldern oder beim Weinbau in den Mulden mitten im Lapilli-Sand, dem pechschwarzen Vulkangestein. Ein paar Ziegen sowie ein Kamel, mit dem er noch hier und da (ganz unzeitgemäß) den Ackerboden pflügte, vollendeten die Haus- und Hofgemeinschaft des Bauern Gregorio Rojas. 
Eines Sonntag-Mittags (von der Iglesia da Nuestra Senora de los Remedios läutete es soeben zwölf Uhr) kam ihm eine folgenreiche Idee, mit der er das kärgliche Dasein und die Plackerei auf den Feldern , die kaum etwas an Erträgen abwarf, zu beenden hoffte. -Täglich sah er die großen Busse durch Yaiza rollen, sah die Horden der mit Fotoapparat und Reiseführer bewaffneten Touristen ausschwärmen, wobei ihm die gut gefüllten Brieftaschen eben dieser Fremdlinge nicht verborgen blieben. 
Der alte Gregorio war weder handwerklich geschickt, noch Besitzer eines Restaurants oder einer Tienda, verfügte auch nicht über eine größere Zahl von Dromedaren, um im Timanfaya- Nationalpark den Touristen die üblichen Kamelritte anzubieten. Dennoch, so dachte er schmunzelnd, könnte ihm gerade seine Kamelstute Mariposa mit der er täglich lange ‘Zwiegespräche'  führte, besondere Dienste erweisen. Es war ein ausgesprochen kluges Tier und viel zu schade, um nur den Ackerboden aufzureißen oder im Kreisrund einer Dromedarmühle sich auf monotone Weise abzumühen. 
Gregorio vernachlässigte seine Landwirtschaft. Man sah ihn oft nachmittags im Bodegon hocken und dem trockenen Malvasier über Gebühr zusprechen. Außerdem besorgte er sich von einer Lehrerin des Ortes einige Bücher, um sich selbst die notwendigsten Kenntnisse und Grundzüge der englischen und deutschen Sprache beizubringen. Ein beinah aussichtsloses und zeitraubendes Vorhaben bei einem einfachen Bauern von Lanzarote, der so gerade des Lesens  mächtig war und für den Bildung und Gelehrsamkeit so fern waren wie das spanische Festland. 
Seine Nachbarn munkelten:"Seht den Schelm! Haus und Hof läßt er verkommen, zehrt seine ganzen Ersparnisse auf und kauft sich Bücher ." Manche meinten sogar, wenn sie ihn stundenlang auf der Bank vor dem Haus dösend und träumend dasitzen sahen oder im Dialog mit seiner Kamelstute :"Jetzt dreht er völlig durch . Wird nicht mehr lange dauern, daß man ihn fortschafft..." 
Der alte Rojas bemerkte dieses abschätzige Gerede sehr wohl. Wenn er Mariposa des abends noch eine Extraration Heu oder Mais in den Stall brachte, rief er ihr manchmal augenzwinkernd zu: "Laß sie nur reden , diese Dummköpfe. Wir werden es ihnen schon zeigen, nicht wahr, mein Carinjo?", worauf Mariposa das gleichmütige Wiederkäuen für einen Moment unterbrach und ihren Kopf zärtlich an seiner Schulter rieb. 
San Jose, der Josephstag, den man in ganz Spanien am 19. März feiert, war gekommen, als Gregorio Rojas endlich daran ging , seine Pläne ins Werk zu setzen. 
In aller Frühe stand er auf, wusch sich, nahm etwas Gofio und ein paar Schluck Wein zu sich und versorgte dann die Tiere, bevor er in der Dämmerung mit seiner Kamelstute Mariposa das Dorf verließ. Auf Trampelpfaden abseits der Autostraße näherte er sich zielstrebig den Montanas del Fuego, den Feuerbergen des Timanfaya-Gebietes und bog dann kurz hinter dem Eingang zum Nationalpark ab Richtung Nuevo Volcan, wenngleich er sich bewußt in nächster Nähe der schmalen Straße postierte, die durch die Mondlanschaft der Vulkane führt. 
Mariposa war mit Ledersattel und rot-grünen Troddeln prächtig herausgeputzt und er selbst hatte sich mit schwarzem Hut, rotem Schal und weißem Hemd festlich folkloremäßig gekleidet. 
In Sichtweite der Straße, auf der die  Touristen das Timanfaya-Gebiet zwangsläufig passieren, pflockte er seine Kamelstute an, stellte zwei, eigens von ihm gefertigte Schilder mittels Holzgestellen wirksam auf und ließ sich dann auf einem Klappstuhl gleich daneben nieder. 
Er wußte um die schon krankhafte Neugier der Touristen und ihre permanente Suche nach reizvollen Fotomotiven oder günstigen Angeboten und brauchte in der Tat an diesem Vormittag nicht lange zu warten, bis die ersten Mietwagen anhielten und sich deutsche und englische Urlauber näherten. 
Auf den beiden Schiefertafeln aber war in deutscher (und dementsprechend in englischer Sprache) zu lesen: ‘Gönnen Sie sich einen unvergeßlichen Kamelritt durch die Montanas del Fuego, die Feuerberge!-Ganze zwei Stunden auf geheimen Pfaden in der Welt der Vulkane für nur 2000 Peseten.' Die Formulierung dieses Textes hatte er sicherheitshalber mit der Lehrerin aus Yaiza durchgesprochen und den Preis, jenen wichtigen Angelpunkt als Variable angesetzt, da es ihm ja nur auf einen ganz bestimmten Typ von Touristen ankam. 
Tauchten junge Leute mit Rucksäcken oder ältere, freundlich plaudernde Ehepaare bei ihm auf, so änderte er noch vor ihrem Eintreffen flink den Preis auf 20.000 Peseten ab, indem er einfach ein Null an der Tafel hinzufügte. So konnte er sicher sein, nicht den falschen Fisch an der Angel zu haben. 
Gegen Mittag endlich(die meisten der Fremdlinge saßen wohl jetzt im von Cesar Manrique gestalteten Restaurant El Diablo und stärkten sich ) fuhr endlich ein Wagen mit einem einzelnen Insassen vor, der Gregorio augenblicklich veranlaßte, die letzte Null auf seinen beiden Tafeln wegzuwischen. Großspurig stieg ein fettleibiger Senor aus seinem Geländewagen und näherte sich mit festen Schritten dem Kamel und seinem farbig ausstaffierten Eigentümer. Sorgfältig studierte er den Inhalt der Tafeln und verfiel dann in ein breites, halb spöttisches Gelächter. 
Gregorio Rojas grüßte knapp und sprach den Fremden, dessen Herkunftsland er schnell erfaßt hatte, in einem etwas mühsamen Deutsch an:" Sie kommen aus Deutschland, Senor?" Ich habe ein gutes Angebot für Sie. Toller Kamelritt auf meiner Stute Mariposa und fairer Preis. Esta muy bien, Senor! 
Doch der deutsche Senor blieb skeptisch und entgegnete nur kopfschüttelnd:" Ich komme gerade von der Dromedarstation. Da kostet der Kamelritt 1300 Peseten für ne Viertelstunde. Und ihr wollt für zwei Stunden nur 2000 Peseten nehmen?! Entweder seid ihr närrisch oder aber es gibt einen gewaltigen Haken bei der Geschichte." 
Der alte Rojas hatte nur wenig von diesen spöttischen Bemerkungen verstanden, konnte sich aber gleichwohl den Inhalt unschwer zurechtlegen. Er beharrte, arglos lächelnd:"Pardon, no entiendo, Senor.-Wo ist das Problem? Dieser Preis ist korrekt und gut, sehr gut!" 
"Aber wie willst du denn davon leben? Das ist mir unbegreiflich." "Oh, Senor, Sie brauchen keine Sorgen machen. Ich habe Bauernhof ganz nah und dieses Reiten auf Kamel ist nur ein Vergnügen für mich." 
Der Gesichtsausdruck des Touristen wechselte rasch von Skepsis in bloßes Bedauern und Spott über diesen armen Teufel, der es wohl nie auf einen grünen Zweig bringen würde." O.K., Mister. Ich nehm dich beim Wort. Keine Pesete mehr für diesen Ritt. - Von mir aus kann's losgehen!" 
"Si, Senor, en seguida, Sofort!!", antwortete ihm Gregorio mit behutsamem Lächeln und ließ sein Kamel durch einen kehligen, kurzen Zuruf niederknien und sich hinlegen, damit der deutsche Senor aufsteigen konnte. Dieser nahm schnell noch ein paar Photos von dem hochmütig dreinblickenden und unbeweglich verharrenden Kamel, zahlte den geforderten Preis und kletterte dann mühevoll und stöhnend auf den altertümlichen Ledersattel. 
"Bitte festhalten, Senor! Es geht los. Vamos, me carinjo, vamos!" Mariposa ließ sich nicht lange bitten, sondern fuhr mit unglaublicher Schnelligkeit erst mit den Vorder- und dann den Hinterbeinen in die Höhe, so daß der fettleibige Fremde sich ängstlich am Sattelknauf anklammerte, um nicht einfach abgeworfen zu werden. 
Gregorio Rojas nahm seine Stute am Zügel und führte sie mit den ständigen Zurufen ‘Fue, fue!!' geradewegs in die schroffe, kärgliche Welt der Feuerberge hinein. 
Franz Baumgarten, so hieß jener deutsche Tourist, hatte sich zwar in seinem Reiseführer über das Timanfaya- Gebiet informiert, wurde aber nun im Anblick dieser weiten Schöpfungslandschaft von Vulkankratern, Kegeln und erstarrten Lava- Massen seltsam berührt.  Jetzt erst konnte er sich lebhaft vorstellen, wie hier die Vulkanausbrüche im 18. Jh. sechs volle Jahre gewütet hatten. An die Schaukelbewegungen seines Wüstenschiffes gewöhnte er sich schnell und genoß sichtlich den majestätischen Rundblick vom Kamelhöcker aus. - Die kleine Gruppe war noch keine Viertelstunde unterwegs und näherte sich soeben dem Taleinschnitt zwischen den Montanas Rodeos und dem Pico Partido,  als der Weg zu einem bloßen Saumpfad zusammenschmolz, der nicht nur äußerst holprig war, sondern auch unmittelbar an einem Steilhang entlangführte. 
Gregorio rief seiner Stute plötzlich eigenartige Befehle auf spanisch zu und sah es mit geheimer Genugtuung, daß Mariposa immer unruhiger und aufsässiger wurde. Sie zerrte am Zügel, warf den gebogenen Hals mit lautem Schnauben und Stöhnen hin und her und schüttelte schließlich den Fremden derart durch, daß diesem Hören und Sehen verging. 
"Verdammtes Biest! So steh doch endlich still!" , rief Baumgarten in höchster Erregung und wandte sich vorwurfsvoll an den Treiber:"He Bursche, bring das Tier zur Vernunft oder ich will sofort zurück!" Gregorio aber war einfach auf dem Saumpfad weitergeschritten und zog Marposa mit festem Griff hinter sich her. Er drehte sich nur kurz um und sagte:"Denada. Mariposa heute schlecht gelaunt. Kein Problem, Senor.-Vamos, vamos!" 
Als aber das Grollen, Stöhnen und Aufbäumen des Tieres nicht nachlassen wollte, befiel Franz Baumgarten im Anblick des zackigen, schwarzen Abgrunds, der wahrhaft höllische Dimensionen annahm, große Angst. Er schimpfte, zeterte und bat zu guter Letzt, als alles andere fruchtlos blieb, den alten Rojas flehentlich , zumindest einen Moment zu verweilen und sich mit ihm über das weitere Vorgehen zu verständigen. Gregorio ging nach einer beträchtlichen Weile schließlich darauf ein und gab dem Dromedar einen kurzen Befehl, still zu stehen. 
Baumgarten fiel nun wieder augenblicklich in seinen arroganten, vorwurfsvollen Tonfall:" Bist du verrückt geworden, mich so in Gefahr zu bringen? Kehr sofort um! Mir ist die Lust vergangen. Du kannst auch deine Peseten behalten." - Darauf hatte Gregorio Rojas nur gewartet. Mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck erwiderte er: "No, Senor. Gregorio soy correcto. Ich hab Geld bekommen und mach meine Arbeit. Ich gehe den Weg zu Ende. Umkehren??No possible! Zu steil, Senor, und zu gefährlich. Sie verstehen?" 
Zwar drohte und beschimpfte Baumgarten ihn nun wieder mit den heftigsten Worten, merkte aber sehr bald, daß er in dieser prekären Lage dem Alten absolut ausgeliefert war. Jetzt erst dämmerte es ihm, daß der Kameltreiber es bei diesem ganzen, angeblich so preiswerten Ritt nur darauf angelegt hatte, ihn in diese vermaledeite Zwickmühle zu bringen, aus der wohl nur die Zahlung einer beträchtlichen Summe zu befreien vermochte. 
Gregorio hatte wieder nach dem Zügel gegriffen und sein Tier mit derben Rufen angefeuert, worauf das Bocken, Grollen und Herumzappeln von neuem einsetzte, als Baumgarten ihn mit einem Wutgebrüll zum Stillstand brachte und dann unvermittelt fragte:"Reden wir nicht länger um den Brei herum. Alles hat seinen Preis. Was kostet es, wenn du umkehrst?" 
Rojas schob seinen Hut in den Nacken und tat sehr entrüstet, als er sprach: "Sie haben schlimme Gedanken. Maldito! Ich sein keine Bandit, kein Betrüger. Mir geht es nur um mein Kamel, mein einziges, Sie verstehen?? 
Mariposa ist kostbar, und Berg so steil..." 
"Nun sag schon, was es kostet! Ich höre..." 
Gregorios Mienenspiel blieb noch immer für den Fremden mehr als rätselhaft. Immerhin schien es jetzt so, als hätte er sich schweren Herzens zu einem Entschluß durchgerungen. "Sie wissen, was neues Kamel kostet? Und Mariposa ist kluges, sehr kluges Tier.-Für 50 000 ich könnte umkehren..." 
Da fiel ihm Baumgarten zornig ins Wort:" 50 000 Peseteten! Das sind umgerechnet fast 6oo Mark. Du bist wohl völlig übergeschnappt. So viel Geld für so ‘nen kurzen Ritt?" 
Gregorio aber blieb unerbittlich: "Das Reiten kostet 2000, aber Kamel es muy importante.- Ich mich nicht lassen beleidigen. Dann besser weitergehen." 
Franz Baumgarten unterdrückte neue Aufwallungen von Zorn und willigte schließlich zähneknirschend ein, zusätzlich die vereinbarte, hohe Summe für die vorzeitige Umkehr zu zahlen. 
Gregorio Rojas hielt ihm unmißverständlich die geöffnete, rechte Hand entgegen und rührte sich erst von der Stelle, als die fünf Zehntausender- Scheine in seiner Hosentasche mit einem herrlichen, lange nicht mehr vernommenen Knistern verschwunden waren. 
Völlig atemlos gewahrte Baumgarten nun, wie unendlich langsam und vorsichtig die Kamelstute unter der Führung des Alten sich umdrehte und dann wiegenden Schrittes den Saumpfad hinab tastete. 
Nach geraumer Zeit langten sie endlich wieder am Ausgangspunkt des Weges an. Mariposa wurde durch Zuruf zum Niederknieen gezwungen, und der Deutsche kletterte erleichtert, doch zugleich wutschnaubend aus dem Sattel. 
Er rief dem alten Gregorio noch ein paar Verwünschungen nach und drohte ihm Konsequenzen an, hatte es dann aber relativ eilig, in seinen Geländewagen einzusteigen und in Richtung Mancha Blanca davonzubrausen. 
Gregorio Rojas sah ihm noch eine Weile versonnen nach, bevor er seinem Tier ein paar Maiskolben zusteckte und sich dann mit gemischten Gefühlen auf den Heimweg nach Yaiza machte. 
So viel Geld hatte er eine Ewigkeit nicht mehr in Händen gehabt und doch und doch.... 
Fast kam es ihm so vor, als hätte Mariposa ihm soeben unter ihren langen Wimpern ein wenig verächtlich und vorwurfsvoll angesehen, bevor sie sich in Bewegung setzte. 

Februar 1997 

 zurück zum Inhalt 

 zu Verse