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Das Internetlicht
 
 

Es fing ganz harmlos an. Auf allen Computerbildschirmen, von Kapstadt bis Hammerfest, war ein kleiner, sternförmiger Lichtfleck aufgetaucht. Er kam, sobald man im Netz war, offline verschwand er wieder. Immer an der gleichen Stelle. Manche wischten am Glas, aber der Lichtfleck blieb. Mit der Zeit vergrösserte er sich. Er irritierte. Und es störte das weltweite Gesurfe empfindlich. Sozusagen Licht im Getriebe. Und er brachte die Online-Anbieter und Computerfirmen auf Hochtouren. Die besten Informatiker mühten sich um die sich langsam aber stetig vergrössernden weissleuchtenden Quadratzentimeter. Am wahrscheinlichsten schien ihnen eine Art Virus als Ursache, sie ihn zu identifizieren, was aber misslang. Andere rechneten hoch, dass man in den letzten Tagen des Jahres 1999 mit einer kompletten Überdeckung der Bildschirme rechnen müsse, vorausgesetzt, der Lichtfleck würde sich weiterhin so vergrössern. Das Datum öffnete allen möglichen Spekulationen Tür und Tor. Und es verärgerte, denn das ein simpler weisser Fleck am Ende des Jahrtausends das gerade so schön heissgelaufene Internet einfach über- und damit ausblenden sollte, mit all dem, was inzwischen da dran hing, war nicht akzeptierbar. Schliesslich waren enorme kommerzielle Interessen mit dem Internet verbunden, von den wissenschaftlichen und kulturellen Aktivitäten im Netz gar nicht zu reden. Das Ganze mobilisierte jedenfalls immense Anstrengungen unter allen Beteiligten, deren bisheriger Spielraum mit dem wachsenden Lichtfleck täglich kleiner wurde. Auf die Art kamen wenigstens einige Programme zustande, die es schafften, den Inhalt von Webseiten um den wachsenden Lichtfleck herum so anzuordnen, dass die meisten Informationen erhalten blieben. Immerhin konnte so Zeit gewonnen werden. Aber das Wichtigste, eine Identifikation des Virus, blieb aus, und der zur Verfügung stehende Platz auf den Webseiten wurde weiter täglich kleiner.

Neben dem störenden Charakter hatte der Lichtfleck aber auch einen erstaunlich positiven Effekt, wie sich erst mit zunehmender Grösse des Flecks herausstellte. Und damit kippte die bisher rein negative Bewertung des Phänomens. Internet-Surfer, die längere Zeit dem Anblick des Lichts ausgesetzt waren, berichteten über ein intensives Gefühl innerer Ruhe und Gelassenheit. Es weckte Sehnsüchte, brachte ins Träumen und machte Lust, diese Träume auch umzusetzen. Diese "spirituelle" Wirkung des Lichtflecks hatte nun ihrerseits vielfältigste Auswirkungen auf die vom Internet umspannte Welt und sogar darüber hinaus. Erst wurden diese Wahrnehmungen noch belächelt und im Rahmen der allgemeinen Milleniumshysterie abgetan, mit der Zeit ergab sich daraus aber ein ernstzunehmendes Problem. Gerade die bereits erwähnten Computerspezialisten, die sich dem Licht sozusagen von Berufs wegen aussetzen mussten, blieben auch von seinen Wirkungen nicht verschont. Die entsprechenden Firmen mussten sich Einiges einfallen lassen, um ihre Mitarbeiter bei der Stange zu halten. Erfreulicher war da schon die Heilwirkung, die dem Licht nachgesagt wurde. Als das bekannt wurde, brach ein regelrechter Lichtboom aus. Für alle möglichen Gebrechen wurde eine tägliche Bescheinung von 15 Minuten Dauer empfohlen, bei sehr schweren Erkrankungen auch mehrmals täglich. Nebenwirkungen traten dabei keine auf. 

Psychologen und Soziologen fanden heraus, dass sich das Internetlicht im zwischenmenschlichen Bereich überaus positiv auswirkte. Sie führten entsprechende Studien durch, in denen die freiwilligen Teilnehmer zum Teil richtigem Internetlicht, zum Teil banalem Kunstlicht ausgesetzt waren. Danach wurden die Teilnehmer konfliktreichen Situationen ausgesetzt. Anhand von Videoaufzeichnungen konnte in den Auswertungen zweifelsfrei gezeigt werden, dass die Lichtgruppe deutlich ruhiger und gelassener reagierte und sich auf dieser Basis auch insgesamt sozial kompetenter verhielt. Diese Daten brachten eine breite Diskussion gerade in der amerikanischen Öffentlichkeit in Gang, über die Frage, ob man das Internetlicht nicht gezielt zur Prävention sozialer Konflikte einsetzen sollte. Man dachte insbesondere an die in den USA zum Teil erschreckende Gewaltbereitschaft an Schulen, im Drogenbereich und den Grossstädten. Die bald entstandenen Selbsthilfevereine stellten nach und nach grosse Monitore auf die Pausenhöfe von Schulen und an die grossen Plätze gewaltträchtiger Stadtteile in den Metropolen, beides mit Erfolg. Sehr schnell gab es eine signifikante Reduktion von Straftaten in den Polizeistatistiken, die mit dem Zeitpunkt dieser Aktivitäten korrelierte. Andererseits gab es aber auch zum Beispiel Obdachlose, die sich in Verbindung mit Alkohol und dem durch das Internet-Licht verursachten Wohlgefühl zuwenig vor der winterlichen Kälte schützten und erfroren. Manche Menschen fühlten sich auch durch die überdimensionalen Licht-Monitore provoziert und zerstörten sie deshalb.

In den USA gab es einen staatlichen Grossversuch, bei dem auf allen Fernsehkanälen im Minutentakt für Bruchteile von Sekunden Internet-Licht über die Bildschirme flimmerte, so kurz, dass es von den Fernsehkonsumenten nicht bemerkt werden konnte. Der Versuch wurde aber bald abgebrochen, weil der Fernsehkonsum und damit auch die Werbeeinnahmen der Sender deutlich zurück gingen.

Nach den positiven Erfahrungen mit dem Internetlicht im Bereich von Gewalt und Kriminalität war es naheliegend, seinen Einsatz im globalen Rahmen zu überlegen. Die Weltbank z.B. vergab nur noch Kredite an Länder, die mindestens einen Internetlichtfernsehkanal flächendeckend anboten. Gremien der UNO erprobten seine Anwendung in den zahlreichen durch Kriege belasteten Regionen der Welt. Man musste aber schnell einsehen, dass sein Einsatz in akuten militärischen Konflikten wirkungslos war. Dagegen liess sich in Regionen, in denen durch Waffenstillstände und Schutztruppen ein wenn auch brüchiger Friede zumindest vorübergehend gehalten wurde, durch den Lichteinsatz eine nachhaltige Stabilisierung erreichen. Diese Wirkung war dabei unabhängig vom kulturellen oder politischen Hintergrund der einbezogenen Menschen. 

Der Wirbel, den das Internetlicht verursachte, wurde natürlich auch ausserhalb des Westens wahrgenommen. Völlig verboten, unter Androhung drastischer Strafen, war der Konsum des Internet-Lichts in totalitären Regimes. Die jeweiligen Machthaber hatten schnell gemerkt, wie die Lichtwirkungen ihnen ganz subtil die Macht entzogen. Propagierte Feindbilder verloren ihre Schrecken, die Menschen gingen aufeinander zu, überall begann Austausch, Verständnis und gegenseitige Unterstützung. Sie wurden immun gegen jede Art politischer Hetze. Beeindruckend war das Beispiel eines Diktators, der schliesslich sogar die Unterstützung seiner Elitetruppen und engsten Handlanger verloren hatte, dann selbst vor seinem Computer sass und sich am Internet-Licht kaum satt sehen konnte. Sein Land erlebte eine friedliche Revolution, die Leute kümmerten sich nicht mehr um das Regime, dass sich langsam auflöste. Den Diktator selbst sah man schliesslich, wie er in der Hauptstadt vor einer Suppenküche der Heilsarmee stand und an Bedürftige Essen verteilte.

Nachdem im Westen der regelmässige Konsum von Internetlicht langsam zum guten Ton gehörte, ergaben sich vielfältige Veränderungen auch im öffentlichen und politischen Leben. Die gewohnten Worthülsen und Phrasen verschwanden aus den Parlamenten, Talkshows, in denen früher Kontrahenten aufeinander gehetzt wurden, erlebten drastische Quoteneinbrüche. Der Austausch wurde insgesamt offener und ehrlich. Die Ideen der anderen mussten nicht mehr diffamiert werden, sie wurden gehört und durchdacht. Und damit kam auch langsam Bewegung in die Politik. Man diskutierte ernsthaft über einen Schuldenerlass gegenüber den ärmsten Ländern und fing dann einfach damit an. Die Solidarität untereinander wuchs, Fremde waren willkommen und bereicherten die Gemeinschaft. 

So entstand, am Ende des ausgehenden Jahrtausends, doch noch etwas Erfreuliches auf dem Boden unserer Zivilisation. Langsam, aber stetig...
 
 
 
 

Ó F.Fischer, 1999.
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