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Wohin oh Zeus trägst du Europa
Dr. Franz K. von Stockert

Versammelten sich Götter und Musen noch auf dem Olymp oder anderswo in Europa, könnte zum Beispiel Klio, die Muse der Geschichtschreibung, die Frage aufwerfen, wer eigentlich das Rad der Geschichte zurückgedreht habe, so dass es am Ende dieses Jahrhunderts wie am Anfang stehe- und damit ein homerisches Gelächter hervorrufen, aber auch einigen Unmut bei Kronos(denn wen sonst als den Gott der Zeit könnten sie gemeint haben).
Gegen das nur langsam verplätschernde Gelächter und den aus Kronos' Ecke geäußerten Verdacht, sie hätte das nach Musenart bloß erfunden, um ihn, den Göttergroßvater zum Besten zu haben, könnte die Muse Tatsachen anführen:
Am Anfang des Jahrhunderts erschossen serbische Patrioten ein Ehepaar, das in der benachbarten k. und k. Monarchie einmal den Thron besteigen sollte: und das war der Startschuss zu einem europäischen Krieg, aus dem ein Weltkrieg wurde. Am Ende erschießen serbische Patrioten Männer, Frauen und Kinder aus den Nachbarhäusern, und es kommt wieder zum Krieg.
Am Anfang des Jahrhunderts grüßte der Herrscher aller Preussen mit familiärem Du den Herrscher aller Reussen; dann brach Krieg zwischen beiden aus und darüber stürzten nicht nur die Herrscher ,sondern es verschwanden auch Preussen und Reussen und mit ihnen noch andere Völker und Namen. Am Ende des Jahrhunderts sind ihre Führer wieder dicke Freunde und auch die Völker sind alle wieder da und wollen unter Ihrem Namen herrschen, jedes vor den andern.
Am Anfang wurde an Stelle jenes Ehepaars ein anderes gekrönt. Zita hieß nun die sehr junge Kaiserin in Österreich- Ungarn. Es hat ihr aber wenig genützt, denn schon bald wurden daraus viele Republiken. Am Jahrhundertende reisten viele Österreicher und Ungarn mit Bussen an, um ihrer Zita noch einmal zu huldigen: aber da war sie schon aufgebahrt.
Natürlich hätte die Götterversammlung manches dazu zu sagen; ja die Unterhaltung könnte zum Streit über die Frage ausarten, ob den Europäern noch zu helfen - oder ob ihre Zeit tatsächlich abgelaufen sei. Dann aber müsste Zeus, der Vater der Götter und Musen, nach alter Gewohnheit ein Machtwort sprechen, dem niemand widersprechen kann. Aber was könnte er sagen ?
Es war einmal eine Zeit, da habe ich, wie ihr wisst, Europa zu neuen Ufern getragen. 
Seitdem haben Ihre Nachfahren(die auch die meinen sind) uns oft genug bewiesen, dass sie das selber schaffen und den Dingen eine neue Wendung geben können. Für uns ist da nichts weiter zu tun. Was nun die Duplizität der Dinge betrifft, die meine Tochter Klio so treffend bemerkt hat(hier würde die ernste Muse energisch nicken und Kronos unwillig abwinken), so sehe ich darin nicht das Ende der Geschichte gekommen, - sondern eine Art Luftspiegelung der Zeit, wie sie über einem allzu hitzig bewegten Rad der Geschichte auftreten kann.
Und lasst es eine Unachtsamkeit meines Vaters Kronos oder seiner Helferinnen, der Horen, gewesen sein, na, dann haben wir's ihnen mit unserm Gelächter vorhin reichlich vergolten.-Und zu Klio gewandt, die sich wohl so schnell nicht zufrieden geben würde: Auch dir rate ich, nimm's nicht tragisch, mein Kind, manchmal scheinen Tage und Taten aus der Versenkung wiederzukehren, aber nicht lange, denk an Bonapartes hundert Tage.
So angeredet, würde Klio aber erst recht nicht schweigen können und, wenn auch mit leichtem Beben in der Stimme, dagegenhalten: Wenn die Völker aber gar nicht anders wollen- als weiter sich eins über das andere sich aufwerfen- die eigenen Idole vergöttern und die andern verteufeln- und hin und her sich die Schuld zuschieben an Krieg und bitterem Unrecht...!
Dann - würde Zeus mit jäh anschwellender Zornesader und Stimme losdonnern. -Dann sollen sie doch noch einmal die Gründe erfinden - und den göttlichen Ratschluss dazu, um sich in den ersten Weltkrieg zurückzustüzen, der dann der dritte wäre! Dann, beim Styx , wäre die Zeit aus den Fugen, verheddert ins Rad der Geschichte! Dann Gnade uns, göttlicher Kronos, wenn wir ihnen noch weiter Zeit zumessen, nur damit sie ihre schaurige Geschichte immer noch einmal abspulen und mit dem Rad nur ihre Toten wieder zuoberst schaufeln! Nichts wäre dann unsterblich als unsere Lächerlichkeit! So spräche der Kronide.
Als erster zöge sich Kronos, der Alte, murmelnd zurück-: Die Zeit läuft, dafür kann ich sorgen, aber mein Gott, was können wir dafür, wie Sterbliche sie nutzen.
So ähnlich, nur freundlicher, den Göttern gleichsam zum Trost, würden das auch die mitbeschuldigten Horen sagen. Aber die haben ja noch immer den Donnerer Zeus besänftigt.
Schließlich, beim Zusehen, wie Kronos sich in der Ferne zu schaffen macht, überhaupt beim Anblick der schier unendlichen Weltenuhr käme die Gesellschaft dann aber auf andere Gedanken.

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Rezension zu 'Tunnelfahrten'