- Ein seltsames Treffen -
Timo Bader
Soldat #1 rannte mit weit ausgreifenden Schritten
über das Schlachtfeld. Der Sturm tobte auf dem Höhepunkt und
der Wind blies ihm eisig kalt ins Gesicht. Er scherte nach links aus seiner
Gruppe aus, entsicherte die Schnellfeuerwaffe in seiner rechten Hand und
beschleunigte gleichzeitig seine Schritte. Er konnte nicht weit in dem
Schneegestöber blicken und der undurchsichtige Vorhang der vom Himmel
fallenden Schneeflocken machte es ihm schon fast unmöglich, die Hand
direkt vor dem Auge zu sehen.
Dann machte er in dem weißen Chaos vor
sich den Graben aus. Im selben Moment wurde ein unbeschreibliches Rattern
laut und ein gelbes Feuerauge flammte in dem grauen Zwielicht vor ihm auf.
Soldat #1 duckte sich, zog den Kopf zwischen den Schultern ein und sprang
nach vorne. Um ihn herum schlugen die Kugeln gestreut in den weichen Schneematch
ein. Er schlitterte über das gefrorene Eis und stürzte mit einem
Schwall aus Schnee, Matsch und unförmigem Gestein in den Graben hinab.
Seine Füße waren taub von der Kälte und er führte
seine steif gefrorenen Hände, die sich bereits dunkelblau gefärbt
hatten, an seinen Mund und versuchte sie mit seinem Atem aufzuwärmen.
Dabei drehte er seinen Kopf zur Seite und blickte
in das Gesicht eines weiteren Soldaten, der direkt neben ihm saß.
Soldat #1 zuckte erschrocken zusammen und das Herz in seiner Brust, das
sowieso schon von dem atemberaubenden Sprint über die Ebene wie wild
pochte, schlug noch schneller und schien zu zerspringen. Soldat #2 blickte
den Neuankömmling emotionslos an. Er hockte völlig bewegungslos
auf dem Grund des Grabens, die Beine an den Leib gezogen, mit steifen Gliedern.
Sein Gesicht war blau von der Kälte, er hatte tiefe Ringe unter den
Augen und lediglich sein Atem, der aus seinem leicht geöffneten Mund
quoll und sich als weißlicher Dunst in der Luft abzeichnete, verriet
Soldat #1, dass sein Gegenüber noch am Leben war.
„He, du“, stammelte er und stupste seinen Gegenüber
vorsichtig an. Seine Hand schmerzte, obwohl er nicht besonders hart gestoßen
hatte. „Was machst du denn?“
„Ich warte“, antwortete der Fremde monoton.
Soldat #1 betrachtete seinen Gegenüber genauer.
Sein Kampfanzug war völlig verdreckt, eingetrocknetes Blut klebte
an seinen Fingern und sein Haar hing ihm wirr ins Gesicht.
Über ihnen wurden Helikopterrotoren laut.
Pausenlos ratterten die Maschinengewehre und begleitet wurde dieses ohrenbetäubende,
abgehackte Stakkato von den Schmerzensschreien der Getroffenen. Nicht weit
von ihnen entfernt lag ein weiterer Soldat in dem Schützengraben.
Seine Glieder waren seltsam verdreht, als hätte ihm der Sturz in die
Tiefe jeden Knochen in seinem Körper gebrochen. Seine Visage war mit
Blut besudelt und er stöhnte. Dann starb er.
Als wäre der Schneesturm über ihnen
ein wildes Tier, dass das Blut gerochen hatte, stürzte sich eine Windböe
in den Schützengraben hinab. Soldat #1 musste seine Augen schließen,
bekam trotzdem einen der feinen Eiskristalle ins Auge, welches sofort tränte.
„Warum kämpfst du nicht?!“ rief der Soldat
seinem bewegungslosen Kameraden über den Lärm hinweg zu. „Wir
haben sie doch schon fast besiegt! Steh auf und kämpfe für unser
Reich! Kämpfe für den Führer!“
Soldat #2 fixierte ihn regelrecht, sagte aber
nichts.
Ich bin müde, dachte er. Lass mich in Ruhe.
Soldat #1 schien dies in seinem Blick zu sehen,
verstand es aber nicht. Er war völlig perplex. Wie konnte sein Gegenüber
nur erschöpft sein? Wie konnte er hier untätig herumliegen? Wo
war der Elan des deutschen Soldaten? Schnell wie ein Windhund, erinnerte
sich Soldat #1. Dem Führer dienen. Vor seinem inneren Auge tauchten
die farbenfrohen Umzüge auf, die es in der Stadt gegeben hatte. Der
Tumult am Bahnhof, als sie abgefahren waren. Jubelrufe. Jubelrufe! Wir
fahren an die Front. Dem Feind gegenübertreten. Auge um Auge. Zahn
um Zahn.
„Komm schon, lass uns losstürmen!“ brüllte
er Soldat #2 an, packte ihn voller Überzeugung und rüttelte ihn
an den Schultern. „Für das Vaterland! Für den Führer!“
Er erreichte damit das genaue Gegenteil. Sein
Kamerad sackte noch weiter in sich zusammen. Soldat #2 betrachtete das
milchige Gesicht seines Gegenübers. Durchsichtig, wie Porzellan. Abgemagert
und trotzdem dieser Elan. Sein Blick forschte nach irgendetwas. Er suchte
etwas in den strahlend blauen Augen des Soldaten #1. Er konnte es nicht
finden und drehte seinen Kopf zur Seite.
Ich bin müde, dachte er nur. Lass mich in
Ruhe.
Soldat #1 war noch immer völlig irritiert
von dem Verhalten seines Kameraden, aber er konnte zumindest die erste
Überraschung, in der er wie paralysiert gewesen war, abstreifen und
erhob sich mit stockenden Bewegungen.
„Dann bildest du eben die Nachhut. Auch gut“,
murmelte er, während der den Soldaten #2 noch immer mit zweifelndem
Blick beobachtete. „Ich werde jetzt da raus gehen und mein Leben dem Führer
opfern, so wie es von Gott gewollt ist. Für das Vaterland! Für
den Führer!“
Die letzten beiden Sätze hatte er laut gerufen,
war aus dem Schützengraben gesprungen und mit gezücktem Gewehr
auf die Verteidigungsreihe der Feinde zugelaufen.
Helikopterrotoren ratterten. Der Wind fauchte
wie eine Wildkatze und verschluckte den Soldaten #1. Hinter dem weißen
Vorhang wurde der tapfere Krieger von einer weiteren Maschinengewehrsalve
niedergemäht und fiel mit dem Gesicht voraus auf den Boden. Lange
bevor er stürzte, war er aber schon tot. Sein Blut färbte die
Schneelandschaft rötlich. Nur wenige Sekunden darauf hatte der heftige
Schneefall das Rot schon wieder überdeckt. Die Leiche des Soldaten
#1 fast vollständig begraben.
Soldat #2 schüttelte emotionslos seinen
Kopf. Er hob seine Hand vor sein Gesicht. Zwei Finger an seiner rechten
Hand waren von der Kälte abgefroren. Er zitterte, obwohl er die Kälte
kaum noch spürte.
Der Helikopter flog davon. Das Geräusch
der Rotoren wurde leiser. Der Sturm peitschte faustgroße Hagelkörner
auf sie herab. Die Maschinenpistolenschüsse erstarben nicht.
Ich bin müde, dachte Soldat #2. Lass mich
in Ruhe.
Abschließend sollte wohl noch gesagt werden,
dass Soldat #2 ein bärtiger, alter Mann (des Kämpfens müde)
gewesen ist und es sich bei Soldat #1 um einen 14jährigen Heißsporn
gehandelt hat… Ein Kind...
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