Das gar nicht so harmlose Konzert mit der Bachstelze
Georg Grimm-Eifert

Ein Vorort legt sich um den anderen wie eine Schale. In der Mitte noch ein paar Bauernhäuser. Darum Geschäfte, bessere Wohngegend, feinmechanische Industrie. Schließlich das Gelände, wo sich Schrotthändler ansiedeln und zunächst bescheidene Gartenhäuser zu passablen Wohnsitzen für Singels ausgebaut werden. Dazwischen merkwürdige Grundstücke mit Gestrüpp. Und eines mit leicht versumpftem Teich. Bei meinen Spaziergängen, die gut sein sollen für das Entwickeln neuer Einfälle, entdecke ich, daß ein Stuhl dort gelandet ist. Eine rokokomäßig geschwungene Rückenlehne ragt zwischen Entengrütze und wer weiß was aus dem Wasser. Ich sehe mir das Stilleben an und frage mich: ‘Ist es zuviel gesagt, wenn man nun von einer Kultur spricht, die baden geht? Wie werden doch freundliche und zierliche Rundungen mit einem Naserümpfen bedacht! Sie stehen da wie zu kurz geschorene und begossene Pudel. Auf jeden Fall bei uns, bei dem Vorbereitungsatelier für die Designer- Fachschule. Es ist ja heute alles nicht so einfach, wenn man zu einer Ausbildung kommen will. Man muß sich zunächst vorschulen lassen. Und Designer sollten ganz gewiß penibel und pingelig sein können. Dies geht nicht ohne Vorbereitung. So bin ich also im Vorbereitungsatelier. Die Atelierleiterin ist recht resolut. Man muß ihr  zugestehen, daß sie sich auskennt in allem, was italienische Designer sich heute einfallen lassen. Ich habe dort meine Ansicht vorgetragen, daß in der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen viel öfter als man meint, etwas aus alten Vorlagen verwertet wird.  Aber unsere Frau Saninowski teilt meine Auffassung nicht. Es wird für mich besser sein, sie in Zukunft für mich  zu behalten.
Bei anderer Gelegenheit knirschte es in einer grundsätzlichen Überlegung wieder bedenklich zwischen uns.  Das hätte ich nie geahnt. Die Sache fing völlig harmlos an. Ich machte wieder meinen Weg an dem Teich entlang, blickte auf die Rückenlehne in Rokokoformen- da springt eine Bachstelze oben drauf und wippt ziemlich aufgeregt an diesem Platz mit seinem Schwanz. Mir fiel ein: Nicht ohne Grund heißt der schwarz-weiß gemusterte Vogel im Norddeutschen ‘Wippsteert' . Danach hatte ich einen Gedanken, von dem ich meinte: Nun bist du wieder auf eine originelle Idee gekommen. Doch in der heutigen Zeit sind Ideen nichts ohne die Realisation, die etwas sichtbar macht. Dergleichen kostet manchmal oder meistens Mühe. Ich nahm meine Videokamera und lauerte, ob die Bachstelze sich dort am Teich, vielleicht auf dem Rokokosessel wieder sehen ließ. Irgendwann glückte es mir, von dem Vogel samt Schwanzbewegungen einen kleinen Streifen zu drehen. Später zog ich die Linien dieser 

 
Bewegungen in einer Zeichnung nach. Und ich bildete mir ein, daß eine sehr interessantes modernes Linienornament entstanden war.
An einem bestimmten Tag in der Woche war es unsere Aufgabe, vorzulegen , was wir in der Zwischenzeit entwickelt hatten, unsere Entwürfe etc.  Die Linien, die sich aus dem Schwanzwippen der Bachstelze ergeben und zu einem Liniengeflecht verbinden,  paßten der Atelierleiterin überhaupt nicht. "Man kann aus der Natur nichts so direkt für das Design übernehmen. Basta." Wieder einmal hieß es für mich: Deine Ideen kannst Du für Dich behalten. Ich jedoch schwor heimliche Rache. 
Hin und her überlegte ich die Sache. Einfälle kommen einem schon, aber ebenso immer hintendran die Frage: ‘Wie lassen sie sich umsetzen? Was wird am Ende daraus, wenn die Geschichte sozusagen fertig ist?'
Mit etwas Beklemmungen ging ich zu jemandem, mit dem ich nicht eng befreundet war, aber immerhin einiges gemeinsam hatte, nämlich den Sinn für ungewöhnliche Dinge. Dieser gute Bekannte hatte Keybord , einen Computer ; verstand es auch, mit dem Computer ein nicht ganz geläufiges Feld zwischen Jazz und Popp zu beackern . Beklemmungen hatte ich, weil dieser Musikus seit kurzem zu den lokal bekannten Künstlern gezählt wurde. Ob er, der nun auf einem Podest gelandet, wenn auch nur auf einem bescheidenen, mir überhaupt sein Ohr leihen wird? Er war aufgeräumt, als ich ihn aufsuchte. Und als ich vor ihm meine Ideen ausbreitete, meinte er vergnügt: "Auf geht es!"  Dazu muß man natürlich wissen, daß er bei einem Ferienaufenthalt an der See Bachstelzen so häufig beobachtet hatte, daß er sich jederzeit ihre Bewegungen lebhaft vorzustellen vermochte. Auf diese Weise besaß er eigene Anregungen für eine Komposition. Meine Bewegungsaufzeichnungen der Bachstelze taten das ihre dazu. Mit Hilfe eines Komputers und eines passenden Programms kam etwas heraus, was er einige Zeit später mir vorführte. Sound und so mußte noch geregelt werden. Eine Sängerin hatte er an der Hand. Meine Aufgabe war, Plakate und Werbezettel zu entwerfen. Wir suchten uns einige Testpersonen, von deren Meinung wir auf mögliche Resonanz am Ort schließen durften. Na ja, das Wetter würde auch noch mitspielen. Schließlich war der Publikumsandrang nicht übermäßig , aber man war zufrieden. Für mich ergab sich, daß die Atelierleiterin ,Frau Saninowski , ein gewisses Faible für Jazz hatte und sich diese Vorführung gerne anhören wollte. Natürlich gab es in den Ankündigungen keinen Hinweis auf die Bachstelze. Auch mein Mitwirken auf dem Plakatentwurf blieb ganz geheim. 
Als das Programm gelaufen war, gab es immerhin lebhaften Beifall, ausreichend für eine Zugabe. So gelang der Knalleffekt. Jedenfalls bei Frau Saninowski.  Der Komponist gab einige 
 
Erklärungen von sich , unter anderem über den Zusammenhang zwischen Komposition und Bachstelze. Er brachte eine weitere Variation zum Bachstelzenmotiv. Frau Saninowski wurde
 offensichtlich unruhig. Aus einigen unschlüssigen Bewegungen konnte man ersehen, sie rang mit sich selbst : sollte sie oder sollte sie nicht gehen?
Schließlich ging sie doch nicht aus dem Saal. 
Nach dem Konzert bedankte sich der gute Bekannte, der Komponist, der mir diesen Freundschaftsdienst geleistet hatte, er bedankte sich öffentlich für die von mir geleistete grafische Arbeit. Daraufhin war im Atelier ohnehin alles für mich gelaufen.  Und ich konnte nicht erwarten, dort süße Kirschen zu ernten. 
Aber ich hatte Zutrauen zu meinen Fähigkeiten gewonnen und auch- das soll man nicht unterschätzen, die Erfahrung , daß mir das Glück diesmal zugetan war.