Ausschnitt aus einem Roman 'Rund um Röntgen'

 Madame de Chessonnier wandte sich an mich. "Jetzt sollen Sie, Herr Moosbacher, uns einmal was erzählen."Ich mußte zunächst eine Weile überlegen. Als ich sagte, daß ich versuchen wollte, sie mit einem Märchen zu unterhalten, merkte ich, wie der Mißmut der Langeweile aus ihren Augen blickte. Sie waren aber erleichtert, als ich ankündigte daß es das Märchen vom Erdkühlein sein würde. Die beiden Damen dachten zuerst, daß ich eines der neueren Feenmärchen zum besten geben wollte. Das hätten sie dann gewiß schon lange gekannt.
Der Anfang ist ziemlich häufig: Also, es war einmal eine Frau, die hatte zwei Töchter. Die Mutter starb und die Stiefmutter wollte der Jüngeren nichts Gutes. Diese ,Gret mit Namen, schickte sie in den Wald. Die Stiefmutter meinte, daß die Gret dort umkommen werde. Grets Patin jedoch riet ihr, einen dicken Faden beim Durchqueren des Waldes mitzunehmen. Auf diese Weise würde sie schon wieder herausfinden.

‘Heutzutage' meinte ich ‘ könnte man ein Mädchen auch in eine Ecke von Paris schicken. In der Stadt gibt es gefährlichere Gegenden als in einem Wald vor hundert Jahren. Na also, die Gret fand eben mit Hilfe des Fadens immer wieder heraus aus dem Wald. Einmal jedoch entdeckte ein großer Vogel diesen Faden, hackte an ihm herum - und - das Mädchen wußte den Weg nicht mehr. Es wurde dunkel, die Gret stieg auf einen Baum und sah eine Rauchsäule. Eine Hütte war da. Und drinnen wohnte das Erdkühlein.

Dem erzählte die Gret ihre Geschichte. Das Erdkühlein versorgte die Gret recht gut. Auch schöne Kleider bekam das Mädchen.  Weil aber das Haus , in dem man groß geworden, auch wie ein Kleid, das man nicht vergißt, wollte die Gret irgendwann zurück zum Haus der Eltern.  Schließlich ließ das Erdkühlein sie gehen, um das Elternhaus noch einmal zu sehen. Dann sollte sie aber zurückkommen. Es ermahnte sie, auf keinen Fall etwas zu sagen, von dem was geschehen war.
Die Stiefmutter und die ältere Schwester staunten über die schönen Kleider der Gret. Sie setzten ihr zu mit Fragen. Schließlich hat das Mädchen geplaudert.

 Als es nun zurück zum Erdkühlein kam, saß dieses völlig betrübt in einer Ecke. Die Gret war auch ganz verzweifelt. Jetzt wollte sie gewiß tun, was das Erdkühlein ihr aufträgt. "Höre gut zu, Gret: "Sie werden mit dem Schlachter kommen. Er wird mich schlachten. Dann mußt Du mit Zeter und Mordio ihn anflehen und um drei Dinge betteln: Um meine Schwanz, um das Horn und den Huf. Nachher mußt Du den Schwanz in die Erde pflanzen, das Horn oben drauf stellen und darauf den Huf. Dann wirst wenigstens Du gut überleben können.
Es kam wie das Erdkühlein gesagt hatte. Traurig tat Gret alles, was das Erdkühlein angeordnet. Nach drei Tagen wuchs ein schöner Baum aus Schwanz, Horn und Huf. Dieser Baum trug die herrlichsten Äpfel, Die Stiefmutter aber und die ältere Schwester konnten sich mühen wie sie wollten, keine der Äpfel ließ sich von ihnen greifen.
Eines Tages kam ein reicher Mann in einer Kutsche vorbei.  Er sagte zur Stiefmutter, daß der Sohn , der hinten krank in der Kutsche lag, gesund würde, wenn er von den Äpfeln essen könnte. Natürlich griff die Stiefmutter gleich nach den Äpfeln. Aber vergeblich. Da kam die Gret dazu. Sie hielt ihre Schürze auf, und die Äpfel fielen direkt hinein. Von diesen gab die Gret dem kranken Sohn. Der aß sie, und es ging ihm besser. Da nahm der vornehme Herr die Gret mit. Sie wohnte in dessen Haus . Später heiratete sie seinen Sohn . Am Tage der Hochzeit stand der schöne Apfelbaum vor ihrem Fenster. "
Nachdenklich meinte Madame de Chessonnier, daß man nach dieser ernsten Geschichte zu heitern Gedanken kommen sollte. Mit einem Glase Rotwein sollte der schöne Abend begossen werden. Dieser Rotwein war übrigens weit besser als jener saure, den wir , die Gehilfen des David Röngten,  mittags serviert bekamen. Der gute Rotwein tat seinem Namen Ehre und hellte die Stimmung auf..

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