Georg Grimm-Eifert
 

Ostfriese in Algier

Das flache Ostfriesenland, ohne bemerkenswerte Erhebungen, wer kennt es? Einer hat seinen Ehrgeiz darein gesetzt, es bekannt zu machen: Otto Wahlkes. Auch noch im Jahr 2000+x war er bekannt. Mit ihm Ostfriesland. Von mir aus hätte es ruhig unbekannt bleiben können. Ich war arbeitslos, es fand sich auch nichts. Aber ohne den Wind, der von der See herüber blies, konnte und wollte ich auf die Dauer einfach nicht leben. Mit dieser Seeluft war ich irgendwie verwurzelt. Sie band mich aber nicht so fest an diese Gegend , daß ich nicht gelegentlich Lust bekam, in den Süden mitgenommen zu werden. Dazu muß ich einiges erzählen: Das geht immer gut bei einem Lütt- un- Lütt . Trotz Arbeitslosigkeit war ich keineswegs untätig. Übrigens, für alle, die diese Gegend nicht kennen: ‘Lütt-un Lütt' ist ein kleines Glas Jeverbier und ein kleiner Kümmelkorn. Jever gehört zwar nicht zu Ostfriesland, ist aber auch nicht zu weit weg. Meine Tätigkeit nun bestand darin, daß ich für andere kochte. Bei Jubiläen und Hochzeitsgesellschaften und für mich natürlich auch. "Du dröhnst ja", sagt meine Nachbarin, wenn ich so langatmig erzähle. Mir macht das langatmige Erzählen nichts aus, weil ich dabei die frische Seeluft immer einatme. Und dies war auch wichtig. Übermorgen nämlich wollte mein Vetter mich mitnehmen in die Gegend von Algier. Da muß es ganz schön heiß sein. Etwas naiv bemaß ich den Temperaturunterschied als nicht zu gravierend. Bei der allgemeinen Erderwärmung haben wir selbst auf den ostfriesischen Inseln gelegentlich bereits mittelmeerische Temperaturen. 
Der Verpestung von Luft Einhalt zu gebieten, dachte man sich folgendes aus. Alles, was fun und Spaß betrifft, ab in die Wüste. Dorthin wollte mein Vetter mich mitnehmen zu einem Denksportfest. Bei dem Denksport ging es auch um kulinarische Dinge. "Davon hast Du doch Ahnung", sagte er zu mir. Also fuhren wir zunächst mit einem Autoreisezug gen Süden, um Marseille herum und verteilten uns dann auf Fähren Richtung Algier. Bereits von weitem sah man gläserne Architekturen in den Himmel zwischen Küste und Wüste ragen. In unserem Quartier legten wir uns erst einmal in die Badebecken. In aufbereitetes Meerwasser. Darauf sollten wir uns in Wollmäntel hüllen, gefertigt aus der Wolle von Schafen, die die Berber durch's Gebirge treiben. "Wat för'n Unsinn." Ich konnte ‘mal wieder meinen Mund nicht halten. "Das ist Brauch bei den Berbern" bekam ich zur Antwort. Unter solch einem Mantel kommt man nicht über 37 ° . Man kann also nicht stärker schwitzen, als der Körper ohnehin bei sich selbst schwitzt. 
Für uns war das Schwitzen als nächstes bei den Denksportaufgaben angesagt. Die Antwort sollte ich in ein Mikrofon eingeben, das mein Wissen weiterreichte. Dieses wurde ganz objektiv per Computer bewertet. Danach stieg eine farbige Lichtsäule in einer der Glasröhren hoch. Wenn diese Lichtsäulen zu dieser Zeit des Sonnenuntergangs dessen Farbe annahm, hatte man 100 Punkte. ‘Was für'n Kitsch', dachte ich. ‘ Wie gut, daß man bei der Kochkunst noch einigermaßen Geschmack hat' Zunächst lief es bei mir ganz gut. Ich hatte mich bereits mächtig gehöcht, wie man bei uns sagt, weil ich bis jetzt bei den Antworten vorne lag. Da erhielten wir die Aufgabe, einen Satz umzuformen, daß er in eine vernünftige Kochrezept- Anweisung paßte. Es brauchten nur wenige Wörter umgeformt- und ergänzt zu werden . Der Satz lautete, ‘Mit goldenem Löffel das Heu vom Boden kratzen ‘ 
Jetzt aber , in diesem Augenblick, dachte ich ganz unerwartet an meine Kindheit. Damals gab es tatsächlich noch Heu auf dem Boden. Es war für unser Karnickel da.  (auf Hochdeutsch: Kaninchen) Dies sollte im Winter auch etwas zu füttern haben. Der Gedanke an den Dachboden und das Kaninchen hat mein Denken völlig blockiert. Verwirrt nahm ich einen der Wollmäntel, stürzte nach draußen in die nächtlich Luft und fing an, vor mich hin zu singen: "dat old swin kümmt inne haute cuisine .." Ich irrte durch die Straßen und war völlig meschugge. Folgendes stammt aus einem Bericht, der mit Hilfe anderer Leute zustande kam. Diese anderen waren eine algerische Frau und ein spanischer Urlauber. Danach hatte ich meinen Singsang vor mich hingesungen, mich manchmal auf's Straßenpflaster gesetzt. Leicht verwundert sahen mich die Anwohner an. Die Frau und ihre zehnjährige Tochter haben mich in das Haus mitgenommen. Dort gaben sie mir zu trinken und versuchten, mich zu beruhigen. Eine Zeit lang mußte ich ziemlich geistesabwesend gewirkt haben. Irgendwie kam ein junger spanischer Tourist in das Haus. Er hatte etwas deutsch gelernt bei der Betreuung deutscher Touristen in Spanien. So kam eine minimale sprachliche Verständigung zustande. Für die Frau wurde ich nach und nach insofern nützlich als ich ihren zweieinhalbjährigen Sohn betreuen konnte. In einem der Räume lag ein zerschlissener , aber schöner und wertvoller Teppich. Darauf hatte ich ein Tier erkannt, das mit zwei Pfoten auf dem Boden kratzte. Durch das Tier kam etwas von der Rätselfrage wieder ins Bewußtsein zurück. Von der Frage eben, die mich derart verwirrt hatte. So langsam lief mein Denken wieder in normale Bahnen. Es ging mir auch besser , weil ich in der Küche mit helfen konnte. Sobald die Frau merkte, daß ich Fähigkeiten und Kenntnisse hatte, die in der Küche gut zu gebrauchen waren, spannte sie mich tüchtig ein. Nun kochte ich inzwischen für die Freundin der Frau und für...Langsam wurde mir auch klar, daß ich für die Frau nicht unbedeutend war. Ihr Mann hatte sie nämlich verlassen , und ich als männlicher Bewohner im Haus hob ihr Ansehen in der Nachbarschaft.  Der Urlauber aus dem spanischen Touristenort kam hin und wieder vorbei. Es ergab sich , daß er einmal eine Artichocke mitbrachte. Er machte sich daran, sie zuzubereiten. Jetzt war er dabei das was man Heu nennt, aus dem Boden der Artichocke herauszukratzen. In diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er war ganz entsetzt, als ich ihn umarmte , wer weiß was stammelte und ihn mit feuchten Augen meinen besten Freund nannte. Amigo und superb. Als ich mich beruhigt hatte und langsam wieder zu mir gekommen war, erhielt ich Klarheit über meine Situation. Zwar nicht vollständig, aber doch so einigermaßen. Für die Frau war ich als männliches Wesen immerhin ein Aushängeschild. Zudem hatte sie natürlich auch etwas in meinen Taschen vermutet. Nun gut. Das beste war schließlich , daß ich auf die Auflösung der Rätselfrage kam:'Mit dem Löffel wird der Artischockenboden ausgekratzt, das Heu vom Boden heruntergeholt. Dazu werden dann goldbraun geröstete Brotstücke gereicht.' Ich versuchte, so gut es ging, meine Gastgeberin und dem Spanier klar zu machen, welche eigentümlichen Umstände mich zu ihnen geführt hatten. Mit dem spanischen Touristen fuhr ich zum deutschen Konsulat ,und danach ging es bald heimwärts. 
Zu hause gab es erregte Debatten mit meinem Vetter. Ein Schnack gab den anderen . Wir hauten auf den Tisch." Die Suchmeldungen, alle vergeblich." schimpfte mein Vetter. Ein Nachbar kam herein. " Nu teuwt mol een beeten . Immer Sutje. Nun halten mal die Luft an, eins nach dem anderen." Die ganzen Umstände wurden aufgedröselt, also nicht wie der gordische Knoten von Alexander durchgeschlagen, sondern nach und nach aufgetütelt, in die Handlungsfäden zerlegt. 
Nachher haben wir denn doch mit etwas Lütt-un- Lütt den glücklichen Ausgang der ganzen Sache begossen.
Ich fand auch jemanden, der die Sache zu Papier brachte. Auf diese Weise wurde zwar nicht Ostfriesland bekannt, es lernten aber Leute mich kennen und auch die Artichocken.