Kassandra
Nein, nach Fieber bei fieberhaftem Feiern oder apokalyptischen Visionen sehnt sich heute am Freitag , dem 7.1.des Jahres 2000 niemand mehr, aber es gibt da etwas, was ich nicht so leicht vergessen kann. Wenn ich's nicht erlebt hätte , ich würd's nicht glauben.
Es war an einem Samstag gegen Ende des Jahres 1999, als ich Ärger zu
Hause hatte und deshalb zum Griechen drei Straßen weiter ging. Die
Stimme des jungen Mannes , der seine etwas ältere Begleiterin mit dem
Namen Alexandra anredete , habe ich immer noch im Ohr. Die beiden saßen
am Nebentisch gerade unter dem Gesims, auf dem Steinfiguren von Apoll
undKassandra standen. Ich hatte die
Namenszüge unter den Statuen bei früheren Besuchen entziffert.
Heute konnte man selbst die Gestalten nur umrißhaft wahrnehmen. Der
Raum, in dem nur wenige Gäste saßen, war schwach erleuchtet.
Einige Kerzen brannten.
Eine Syrinx spielte.
Am Nachbartisch unterhielt man sich. D. h. Von Unterhaltung konnte weniger
die Rede sein.. Aber davon später.
Alexandras Stimme war nicht zu überhören. Sie gestikulierte, schien
erregt, redete von trojanischen Pferden, vom neuen Jahrtausend, dem sie nichts
zutraute. Erdbeben, Waldsterben, Überschwemmungen.
"Es wird wärmer werden. Die Erde kommt aus
dem Gleichgewicht...Ich sehe ein großes Feuer."
Alexandra schwieg erschöpft und sah ihren Tischnachbarn, dann auch mich
und die anderen Gäste erwartungsvoll an- Was sie erkennen konnte, waren
teilnahmslose Gesichter. Sie wurde nicht gehört, und ich nehme an, wenn
sie ehrlich zu sich selbst war, dann erfuhr sie das heute nicht zum ersten
Mal.
Erderwärmung, Waldsterben, -d i e Problemkreise waren sattsam bekannt..
Ich war froh, als der Punsch, den ich bestellt hatte, nun endlich kam.
Ein bißchen gelangweilt, ließ ich meine Blicke umherschweifen.
Da hörte ich vom Gesims her ein feines Schleifgeräusch Ich versuchte
herauszufinden, woher es kam. Und nun nahm ich etwas wahr, was ich kaum glauben
konnte.
Die Figur der Kassandra, weiter nach
vorne gerückt, war auffallend hell wie von innen her erleuchtet. Die
Augen sahen aus, als seien sie lebendig, und der lange Umhang -vorher geschlossen
-war leicht geöffnet.
Als sich dann ihre Augen mit meinen trafen, war ich doch ziemlich irritiert
und beunruhigt.
Ich wechselte die Stühle, um 'Kassandra'
nicht im Blickfeld zu haben.
Und es dauerte eine Weile , bis ich meinen kritischen Verstand wiedergefunden
hatte.
Kassandra, eine schöne Kunstfigur?
Ich nahm mir vor, bei allernächster Gelegenheit den Wirt zu fragen.
Aber vorerst vermied ich es, die schöne Kunstfigur anzusehen.
So war ich ganz froh, als meine Aufmerksamkeit wieder durch den
Nachbartisch in Anspruch genommen wurde.
Dieses Mal redete der junge Mann, und dieses Mal war es Alexandra, die mit
ausdruckslosem Gesicht, leicht abgewendet, neben ihm saß
So monologisierte er und achtete nicht auf seine Begleiterin .Was er dann
sagte, hatte auch wirklich nichts mit Alexandras Visionen zu tun.
Dionysius Exiguus-hatte ich richtig gehört? Ich mußte in der
Bibliothek nachsehen, wer das war. Zumindest nahm ich mir das fest vor.
Tatsächlich habe ich Anfang Januar etwas herumgesucht. Dabei bin ich
auf einen Artikel über das Jahr 2000 gestoßen.. Diesen Artikel
von Walter Seibel mußte der junge Mann auch gelesen haben!!
Wie gesagt: Alexandra interessierte das alles nicht. Gelehrsamkeiten...
Sie schaute nach oben in eine mir inzwischen geläufige Richtung. Anders
als ich war sie überhaupt nicht irritiert von
'Kassandra'der schönen Kunstfigur.
Sie hielt Zwiesprache mit ihr. Ziemlich lange.
Dann wendete sie sich um , schien alles um sich herum zu vergessen und
verkündete mit erhobener Stimme , was sie sah:
Was dann noch geschah, weiß ich nicht mehr. Irgendwie habe ich den
Weg nach Hause gefunden.
Zwei Tage später besuchte ich das Lokal wieder. Es war morgens
ungefähr zehn Uhr. Die Tür zum Lokal stand weit offen. Luft durchzog
die Räume. Die Stühle waren hochgestellt. Staubsaugergeräusch..
Und - tatsächlich :Kassandra stand
nicht auf dem Gesims. Nur Apoll lag achtlos in einer Nische. Der Wirt wußte
nichts von einer Plastik' Kassandra' und auch nichts von Alexandra und ihrem
Begleiter- worüber ich mich schon nicht mehr wunderte..
Doch dann fiel ihm ein, er hatte die Plastik(genau die gleiche wie die, die
ich ihm beschrieben hatte) auf einem Flohmarkt in Athen kaufen wollen . Aber
der Kauf sei nicht zustande gekommen , weil der Verkäufer nicht habe
handeln wollen.
Anderntags habe er an der Stelle des Verkaufsstands Unrat und Gerümpel
vorgefunden- von einer Kassandra-Plastik keine Spur...
Anm: Kassandra(auch Alexandra) Seherin
Da sie Apollon ihre Gunst versagt, bewirkt dieser, daß niemand ihren Sprüchen glaubt.