Heute gähnte die
Leere
Seit Samstag war der Platz auf
dem Schreibtisch von Jutta Bentheim kleiner geworden. Wo früher mehrere
Haufen von Büchern lagen, oder sich Zettel beliebig verteilten, fand
nun die Katze kaum einen Platz , wenn sie Lust hatte, von draußen durch
das Fenster direkt auf den Schreibtisch zu springen. An die Stelle von
Büchern, Zetteln war ein Monitor, ein Rechner, ein Drucker , eine Tastatur,
eine Maus getreten, ein Park von Geräten. Jutta Bentheim 'arbeitete'
mit und an den Geräten so intensiv, daß schließlich andere
'wichtige' Tätigkeiten in der Prioritätenliste weit zurückfielen.
Wäsche, Staub, Geschirr stapelten sich, nichts war wichtig, wenn es
galt, herauszufinden, warum das gesuchte Programm denn nun dieses Mal nicht
erschien, oder auch, wie , wo welche Schrift zu finden war. Weiter, enger,
zentrieren, fett, kursiv...
Am Dienstag nun tippte sie die Geschichte, die sie zu einem Wettbewerb, der
von der Firma Soft-Cook gesponsert wurde, einreichen wollte.
Erlebnishunger war das Thema der Ausschreibung.
Und um Erlebnishunger handelte es sich in der Geschichte vom 'Postfraub in
R.'
Manchmal hatte Peter Moos; dann war was los in Egons Lokalität. Tolle
Stimmung wie letztes Jahr Weihnachten.Peter, der große Zahlmeister.
Es war voll bis zum Gehtnichtmehr. Damals.
Heute gähnte die Leere'
So weit hatte sie das Geschehen auf dem Monitor festgehalten. Da sie die
Idee hatte, sich nun doch mal dem Staub, der Wäsche, dem Geschirrberg
zuzuwenden, verließ sie den Gerätepark und begab sich wie
geplant an die Hausarbeit.
Die Fortsetzung der Geschichte auf dem Monitor einige Zeit später klappte
hervorragend(ein Lieblingswort von Herrn K.-ihrem Lehrer in PC Angelegenheiten.)
Die Textabschrift war schließlich nach einiger Zeit abgeschlossen und
befand sich sicher auf dem Speicher. Bis auf weiteres.
Eigentlich könnte man den Abstand verändern. Vielleicht auch die
Schrifttypen.Das war alles zu machen!
Vorschriftsmäßig rief sie am nächsten Morgen den Text ab
und ließ den Cursor nach unten wandern.
Als er bei dem Satz'Heute gähnte die Leere' angekommen
war, ließ sich der bekannte Ton vernehmen, der anzukündigen pflegt,
daß an der Stelle nichts zu machen war.
Die Fortsetzung hatte 'hervorragend' geklappt. Der Text, der dem Hinweis
auf die gähnende Leere folgte und nun gespeichert worden war, mußte
doch zu finden sein! Einigermaßen irritiert drückte sie Tasten,
öffnete' Fenster'.
Aber nichts geschah, wenn man davon absah, daß die Wortfolge 'Nun
gähnte die Leere' nervös auf dem Bildschirm herumirrte. Keinerlei
Aktivität brachte zustande, die gähnende Leere wieder an den
vorangehenden Text anzubinden. Im Gegenteil- die Leere breitete sich aus,
sprang über den Bildschirm hinweg, irgendwohin, wo sie vorerst nicht
zu sehen war.
Ganz offensichtlich war etwas geschehen, etwas Unerklärliches,
Merkwürdiges, im höchsten Maß Irritierendes.
Sie mußte etwas in Bewegung setzen.
Der Lehrer von Jutta Bentheim , Herr K. war nicht zu erreichen. So rief sie
ihren Mann im Büro an. Der war wie gewöhnlich in einer wichtigen
Sitzung und über die Störung nicht unbedingt begeistert.
'Du kannst die Leere nicht zurückholen? Sie breitet sich aus ?!
Ich hab's ja immer gewußt, der PC ist nichts für dich! Am besten
, du legst dich jetzt hin. Zieh den Stecker raus. Und geh spazieren. Also,
bis heut' abend. Vergiß nicht, ich bring' Jürgen zum Essen mit.
So schlecht war der Rat vielleicht nicht. Sie hatte noch nichts besorgt für
heute Abend. Sie zog den Wintermantel an, steckte den Schlüssel ein,
holte Geld-und öffnete die Tür zur Straße hin.
Gähndende Leere. Nichts.
Die Straße war einfach nicht vorhanden. So als hätte sie die
Schere-Taste gedrückt, deren Auftrag darin bestand, unerwünschte
Textteile zu entfernen.
Die Treppe konnte man noch hinuntergehen, ein Teil des Abhangs vor dem Haus
ließ sich offensichtlich noch betreten.
Danach dehnte sich die Leere aus. Genau abgezirkelt.
Litt sie an Wahrnehmungsstörungen? Sie war sicher, daß dem so
war. Sie wollte nichts mehr von all dem wissen. Nur schlafen, nicht denken
müssen. So beschoß sie, ein altbewährtes Einschlafmittel
zu nehmen: 'Adumsomnium 2' und Alkohol. Danach, wenn sie aufwachte, würde
sicher alles gut sein, ihr Mann würde zurückkehren und von dem
Leerespuk wäre keine Rede mehr
Sie schlief mehrere Stunden. Inzwischen war es Abend geworden. War etwas
geschehen? Sie rief den Namen ihres Mannes. Ging in die Küche. Nichts
hatte sich verändert. Er war nicht gekommen. Sie wagte nicht, die Tür
zur Straße hin zu öffnen. Sowieso war alles dunkel. Auch den Monitor
ließ sie unberührt. Nichts zu tun schien ihr im Moment das beste.
Das einzigste, was blieb, war das Telephon. Aber weder zu ihrem Mann, den
sie bei seinem Freund anrief, noch zu Herrn K. bekam sie Verbindung. Sie
konnte nur einige Freundinnen erreichen, beschloß aber, nichts von
den Phänomenen zu erzählen. Man brauchte nicht viel Phantasie,
um sich vorzustellen, was Dorothea, Helga und Anne zu der sich ausbreitenden
Leere sagen würden. Also das Übliche. Gesprächskultur wie
gewohnt. Mit Dorothea unterhielt sie sich über deren Sprachenkurse an
der Universität Bonn, mit Helga verabredete sie sich zum Kirchgang am
Sonntag, und Anne bekam gute Ratschläge gegen den Schnupfen.
Erfahrunsgemäß war das vergebliche Liebesmüh.
Und das Fernsehen? Tatsächlich. Keine Probleme. Das laufende Programm
entsprach dem in der Programmzeitschrift. Sie ließ sich ablenken, sah
den Film über den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden. Nach kaum
einer halben Stunde erschien am unteren Rand des Fernsehschirms ein Schriftband:
'In zehn Minuten Neues vom Wissenschaftskongreß in Tokio. In zehn Minuten
Neues vom Wissenschaftskongreß in Tokio...'
Tatsächlich- die Tagesschau wie gewohnt, aber kein Wort über Steffis
Vater, von der Geiselaffäre in Lima. Auch der Kaufhausbrand in San Franzisko
war nicht von Interesse. Die gesamte Sendezeit war dem Wissenschaftskongreß
in Tokio vorbehalten.
Einziges Thema: die Leere.Ausbreitungsgeschwindigkeit, Richtung, Ursache,
Gesetzmäßigkeit. Ein spezielles Forschungsteam war damit
beschäftigt, die vorhandene Leerefläche zu vermessen. Man erfuhr
Genaueres über Landstriche, Städte, die in Sekundgeschwindigkeit
in der Leere verschwanden.
-Manchmal tauchte sie plötzlich auf, war fast nicht wahrzunehmen.
So berichteten die Freitagnachrichten von einer Hausfrau aus Johanneskirchen
, einem Stadtteil im Norden Münchens. Frau B. war gerade dabei, Wasser
in den Kessel zu füllen, als sie plötzlich nichts mehr in den
Händen hielt. Der Kessel war verschwunden. Auch das Wasser. Es fand
keine Überschwemmung statt. In München konnte sich die Leere nicht
ausbreiten.
Nachrichten gab es ab Samstag viertelstündig.
Frau Bentheim erfuhr von einer Massenflucht in Richtung Osten. Es sah aus,
als würde der Osten verschont bleiben. Keine Leere in den Trümmern
von Tschechenien, nichts wurde gemeldet aus Moskau, Sibierien, China., Japan.
Bisher jedenfalls.
Aber dann hatte sich ein Feld der Leere im Gebiet des Ural aufgetan.
Flüchtlingsmassen wurden regelrecht angezogen, stürzten hinein,
waren unrettbar verloren.
Nach diesem Ereignis gab es keine größeren Flüchtlingsbewegungen
mehr . Man blieb zu hause. Man hielt still, weltweit - verfolgte die Geschehnisse
auf dem Bildschirm, so daß die Einschaltquoten astronomische Höhen
erreichten.
Besonderes Interesse fand eine Sondersendung, die im Mitternachtprogramm
ausgestrahlt wurde. Die Rede war von der Comm-Sekte in Japan. Wie verlautet,
gab der Sektenführer an, einen Antikörper gefunden zu haben, der
den Leerevirus neutralisierte. Aber- so ein Sprecher der Sekte- er war nicht
bereit, das Wissen weiterzugeben. Nach Meinung des Führers hatte es
die Welt nicht verdient, fortzubestehen. Sie sollte in der Leere verschwinden.
Je schneller, desto besser.
Die Sektenmitglieder fürchteten die Leere nicht, bzw. sie hatten sie
nicht zu fürchten. Um ihre Furchtlosigkeit zu dokumentieren und um zu
zeigen, wie wenig sie das ganze anging, kleideten sie sich alle in lange
weiße Gewänder , versammelten sich auf Hiroshimas größtem
freien Platz und übten sich im Gähnen. Auf riesigen Transparenten
war zu lesen:'Heute gähnte die Leere.'
Es gab viele Leute, eigentlich die meisten, die in den letzten Tagen
buchstäblich zu Dauergästen vor dem Fernsehschirm geworden waren.
Und ihre Endlosschau sollte belohnt werden. Was Herr Köpke schließlich
berichtete, sah tatsächlich nach einem Hoffnungsschimmer aus.
Gut unterrichtete Kreise wollten von einem Computerfreak wissen, der rechtzeitig
den Vorleerestand der Welt gespeichert hatte. Nun baute eine
Spezialforschungsgruppe in silicon valley-Kalifornien- ein Gerät mit
unfaßbar großer Kapazität. Letztendlich brauchte dann nur
noch die absolut wirksame Taste
'Wiederherstellung'betätigt zu werden, und alles war wie
vorher.
Man arbeitete fieberhaft. Man wollte die Welt retten. Je schneller, desto
besser.
Mitarbeiter fielen reihenweise vor Müdigkeit auf den Boden. Prof.
Albstein,der Leiter des Projekts, vor allem ,kannte keine Nachtruhe mehr.
Wußte man, ob silicon valley vom Leerevirus verschont bleiben würde?!
Trotz allem, die Weltfernsehgemeinde lehnte sich - ebenso wie Jutta Bentheim-
halbwegs beruhigt in den Fernsehsessel zurück. Man atmete spürbar
auf. Es geschah etwas, es wurde etwas getan, nein, es wurde alles
getan.
Wie für alle erschien für Jutta Bentheim die Welt und die nächste
Zukunft wieder in freundlicherem Licht. Ihr Mann würde nach hause kommen,
zusammen mit Jürgen, seinem Freund. Sie würde eine Ausrede zu finden
wissen, warum das versprochene Essen nicht auf dem Tisch stand.
Sie würde Herrn K. anrufen, ihm alles erzählen. " Da haben wir
noch mal Glück gehabt,"würde der sagen. Ja, das würde
er sagen.
Irgendwann später würde sie die Geschichte vom Postraub in R. auf
ihrer alten Schreibmaschine tippen- ohne den Satz von der gähnenden
LEERE.
Vorsichtshalber.