Schwelbrände 

Zeit: Ich, die ich alles prüfe, Gut und Böse 

Erfreu und schrecke, Irrtum schaff' und löse; 

Ich übernehm' es , unterm Namen Zeit 

Die Schwingen zu entfalten 

(aus: Shakespeare ‘Ein Wintermärchen' 4. Aufzug) 

Die ‘Zeit' war in einen langen hellbeigen Umhang gehüllt und trat vor den dunklen Vorhang. Sie ließ noch einiges mehr hören, vom Wechsel aller Zeiten, vom Aufstieg und Fall von Sitten und von Werken- 

Die Gegenwart wird bald dem Dunkel weichen.

Dunkel war der Zuschauerraum, und hell wurde es auf der Bühne. Das ‘Wintermärchen' nahm seinen Gang am Hof von Sizilien. 

Eigentlich hatte ich überhaupt keine Lust gehabt, mir eine Schüleraufführung anzusehen, aber Franziska war der Ansicht, ich hätte doch sonst nichts zu tun und viel Zeit zu verschenken. Zeit zu verschenken wäre immer noch besser ,als sie zu vertreiben. .. 

So saß ich denn nun neben Franziska auf der einen- und einem leeren Stuhl auf der anderen Seite. Dort deponierten wir Mäntel und Taschen. 

Ich versuchte, bei den Ordnungen und Unordnungen auf der Bühne meine eigenen Unordnungen zu vergessen. Aber das Treiben bei ‘Hofe' wirkte eher einschläfernd. Franziska behauptete:'Du hast geschlafen'.So war es aber nicht. 

Neben mir der Stuhl mit unseren leeren Sachen wäre eigentlich frei für jemanden. Es könnte ja die Zeit mal vorbeikommen! Sie saß sowieso nur untätig hinter dem Vorhang. Dazwischen hatte sie Langeweile, denn das Stück kannte sie schon von den Proben her Da ich jetzt mehr oder minder vor mich hindöste, könnte sie sich neben mich setzen und mit mir eine kleine Zeitreise unternehmen. Nicht unbedingt ins Mittelalter Irgendwohin in meine Biographie vielleicht. So lange , bis der Akt da vorne auf der Bühne zu Ende ist. Dann ‘durfte' sie wieder das Wintermärchenbühnenspiel kommentieren. 

Da war sie schon, setzte sich neben mich und fragte auch gleich nach meinen Wünschen. 

‘Wann willst du aufwachen?' 

Etwas leichtsinnig meinte ich:'Ist mir egal'. Es gab da schon einige dunkle Punkte , und egal war's mir von daher eigentlich nicht. 

Ich spürte das Tippen auf meine Schulter, und dann ging es ganz schnell. Ich war wie in Trance aus der Reihe getreten und stand vor der Klasse. Langsam erkannte ich die Schüler. Almuth, Gabi... Jutta. Birgit rechts außen fehlte, aber ihr Platz war besetzt von einer anderen Schülerin, die, die einen langen beigen Umhang trug. Ungewöhnlich für die damalige Zeit, dreißig Jahre zurück. Nun hörte ich ,wie meine junge Stimme (das merkte ich deutlich) von Systole und Diastole erzählte. Mein Lieblingsthema: Etwas aus dem Faust. Die Aufschlüsselung des Dramas nach ‘Einatmen' und ‘Ausatmen' ging auf mein Studium zurück. 

Die Schülerinnen schienen einigermaßen interessiert zu sein.  

Eigentlich war ich ganz zufrieden mit mir, der Welt und der Zeit, aber dann bemerkte ich, wie Kollegen von außen durch's Fenster in den Raum hineinsahen und breit grinsten: Du nimmst noch den Faust durch??? Der ist doch schon längst passee. 

Nein, das stimmte nicht . So war das nicht vor dreißig Jahren!!.Und ich war ganz aufgeregt, bis ich bemerkte ,wie das Wesen im langen beigen Überhang mir verschmitzt zublinzelte. Ja, sie, die Zeit, hatte ein bißchen geschwindelt und bei ihrem Statement eines meiner früheren Erlebnisse mit verarbeitet. 

Der vertraute Gong beendete die Stunde. Ich ging ins Lehrerzimmer. Zugegeben: Ich lief auch ein bißchen neben mir her mit dem Wissen von dreißig Jahren danach. 

Als ich den Zettel in meinem Fach bemerkte, stellten sich Kopfschmerzen ein. 

Der Direktor wollte mich sprechen. 

Ich machte mich sofort auf den Weg. Ehrlich gesagt, war der Direktor an sich nicht unnett. 

Aber heute hielt er mir vor: ‘Sie haben gestern bei der Vorführung im Nachmittagsunterricht das Gerät nicht ausgeschaltet. Die Kollegin, die für die Sicherheit des Hauses verantwortlich ist, hat mich unterrichtet. Das heiß laufende Gerät hätte sich entzünden können. Sie können sich doch wohl die Folgen selbst ausmalen. Denken Sie nicht an Brandgefahr?!" 

Zu  dem verordneten Nachdenken kam es nicht  mehr, denn Frau Zeit mußte zurück zur Bühne. 

Dort hatte sie aber keine langen Verse vorzutragen und war gleich wieder an meiner Seite. 

Sie wollte sich mit mir unterhalten. Ohne Rücksicht darauf, was die anderen im Zuschauerraum davon halten könnten. 

"Die Schule in Flammen" meinte sie," das wäre vielleicht leicht übertrieben. Ein Schwelbrand ist gefährlich genug. Die meisten wußten von der Sache nichts.Nach außen änderte sich nichts. In den Pausen redete man wie immer über den Urlaub, entweder den vergangen oder den kommenden. Die Schule lief weiter, funktionierte wie eine geölte Maschine. Aber es gab die giftigen Dämpfe, die durch die Ritzen drangen. Immerhin war die Schule ein Altbau. Und die Dämpfe nisteten sich ein , drangen vor in die Gänge, die Unterrichtsräume und auch in's Lehrerzimmer . Sie breiteten sich aus. Schlichen in die Köpfe. Du kannst dich nicht erinnern? Aber du weißt doch noch... 

Schüler rasten schreiend und jolend durch die Gänge des Hauses. 

Lehrer tuschelten zischten, schwiegen plötzlich im Gespräch, tauschten vergiftete Blicke . Manche der Bezischelten, Betuschelten hielten's nicht aus, wurden krank." 

Ich hatte meine Migräne wieder, war froh, daß die Zeit für ihren Auftritt auf der Bühne unsere Unterhaltung unterbrechen mußte. 

"Durch mich verbleicht der Glanz der Gegenwart" verkündete sie. 

Wenn ich nicht in der Gegenwart bleiben will, wohin soll ich dann?' Mir fiel kein Zeitraum mehr ein, in den die Zeit mich hätte versetzen können, ohne daß sich meine Migräne vergrößern würde. Ich gehörte zu dem Kreis der Bezischelten, Betuschelten Da konnte man nicht drumherumreden .Feige war ich außerdem. Ich hatte ein Flugblatt verfassen wollen über das Geschick des Kollegen Tlo.. Aber es wurde nichts draus . Keine Flugblätter. Nur ein Vers findet sich jetzt noch unter meinen Papieren. 

Die Schulleitung 

Der Tlo war krank 

Krank war der Tlo 

Tat seine Pflicht bis zuletzt 

im GWO 

Viele Steine wurden geworfen 

Welcher traf tödlich? 

Pause.

Die Eltern der Bühnenakteure hatten im Nebenraum freundlich gedeckt. Die Zuschauer sollten einen Imbiß zu sich nehmen können. Kuchen gab's und Schnittchen zu niedrigen Preisen. Auf jedem der Tische stand ein Gedeck mit Kerze Man unterhielt sich gedämpft. Als ich mich von meinem Sitz aus umdrehte, erkannte ich die Zeit, die meinen Blick nicht bemerkte - oder absichtlich nicht zu mir hinschaute. Sie sah starr und würdevoll geradeaus, und ich wunderte mich, daß ich den Mut gehabt hatte, sie anzusprechen. 

Ein unvermuteter Zwischenfall. Jemand hatte unachtsam eine Serviette in die Kerze an unserem Tisch geworfen. Die Serviette fing Feuer. Ich warf sie zu Boden und trat heftig darauf. Merkwürdig. Kein Kleidungsstück fing Feuer. Aber ich mußte hier weg. Ich versuchte, so schnell wie möglich den Ausgang zu erreichen. Ich sah noch einmal zurück und erkannte: Dämpfe stiegen hoch. Die Glut war offensichtlich nicht vollständig erstickt. Ich wollte warnen. Aber warum merkten die anderen nichts? Ich sprach jemanden an. Doch der lächelte , und in seinen Augen stand:'Die ist meschugge '. 

inhalt2Niemand nahm auch nur die geringste Notiz davon. Auch Franziska nicht. Nach und nach gingen wir alle langsam in den Zuschauerraum , um uns den Schlußteil des Stückes anzusehen. 

:Ein neuer Schwelbrand war im Entstehen! 

Man konnte nichts tun. Auch dann nicht, wenn man eine Katastrophe ahnte. 

Der Vorhang wurde heruntergelassen. Die Zeit kommentierte: 

Eine Zeit ohne Ordnung wird kommen 

Ein Fall von Sitten und Werken.' 

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